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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Tarnhose sehe und den kalten Schaft der Kalaschnikow in meinen Händen, und die Wände des dachlosen Hauses, in dem ich mich befinde, werden von Projektilen zerfressen, bis sie vollkommen verschwinden und einen überwältigenden Blick auf eine schmale Brücke in der Ferne freigeben, die sich von einem Palmenstrand über den Ozean in die rote untergehende Sonne erstreckt.
    Als der Rausch etwas nachließ, lief ich benommen den Hügel hinauf nach Mejdan und fand die Adresse. Als ich da war, wusste ich nicht mehr, was ich dort wollte. Es war heiß, und mein Mund war trocken, und alles sah bedeutsam aus, also setzte ich mich auf eine zusammengezimmerte Bank auf der anderen Seite der Schotterstraße und betrachtete das kleine Haus, den Garten.
    Hier hat er gelebt.
    Statt mit Blumenbeeten war jedes verfügbare Fleckchen Garten ohne erkennbare Ordnung mit Gemüse bepflanzt, nur der Weg zur Haustür blieb frei. Es sah aus wie das Werk eines Blinden. Kohlköpfe lagen verstreut zwischen plattgetretenen Frühlingszwiebeln, Büschel von Karottenhaaren lugten zwischen Salatköpfen hervor, Bohnenstangen überwucherten den Zaun und zwängten sich zwischen Tomatenranken. Drei Maispflanzen lehnten aneinander wie betrunkene Kumpels. Eine Sonnenblume stand auf den Zehenspitzen, hielt Ausschau nach ihrem Herrn.
    Irgendwo hinter mir murmelte ein Radio etwas über Flugverbotszonen, Waffenstillstandsabkommen, Richard Holbrookes Pressekonferenz zum Massaker von Srebrenica. Plötzlich ist es eine Woche früher, meine Mutter weckt mich und sagt mir, ich solle mich anziehen. Was machen wir, frage ich, aber sie sagt bloß, dass ich mitkommen soll. Wir gehen raus und sie hat eine ockerfarbene Plastiktüte dabei. Was istda drin, frage ich. Was zu essen, sagt sie. Guck, sagt sie. Ich gucke und sehe einen UN-Laster auf der südlichen Ringstraße vorbeifahren und kann mir eine Sekunde lang nicht vorstellen, was sich darauf befindet. Wir gehen näher ran. Er verschwindet, aber schon taucht ein anderer auf – es ist ein Konvoi –, und ich gucke genauer, kann es aber immer noch nicht erkennen. Ich sehe Bewegung. Etwas bewegt sich auf diesen Lastern. Hier und da. Wir gehen immer näher ran, bis wir die Menschen sehen, allesamt Frauen, sie stehen so dicht gedrängt auf der offenen Ladefläche, dass sie wie ein fester homogener Klumpen aus Menschenfleisch wirken. Die an den Rändern werden gegen das Geländer gepresst, können sich nicht bewegen, Frauen mit krummen Rücken, die Arme in die ihrer Nachbarn verkeilt, Gesichter aus Elend, Augen aus Leere. Wir hören Wehklagen, hier und da, aber die meisten sind stumm. Sie stehen so eng, sie haben nicht genug Luft zum Klagen. Nur zum Atmen reicht es, gerade so. Was ist das, frage ich. Flüchtlinge aus Srebrenica, sagt meine Mutter. Wir laufen immer weiter neben dem Konvoi her, und als er an uns vorbei und die Straße wieder frei ist, laufen wir immer noch weiter. Wir folgen dem Konvoi zur Arena, wo ich bei Basketballspielen und Handballturnieren und Boxkämpfen und Wohltätigkeitskonzerten war. Jetzt kann ich den Parkettboden nicht sehen, weil Tausende wehklagender Frauen dort wie Insekten herumwuseln oder auf Yogamatten und Decken sitzen, die Gesichter in die Hände vergraben. Wir steigen von den obersten Rängen zum Spielfeld hinab, und der Lärm ist ohrenbetäubend: Klagen, Schluchzen, Schniefen, Schreien, Kreischen, das Knacken von Plastikwasserflaschen, die Namen der Lebenden werden gerufen, die Namen der Toten werden gerufen, die Namen Gottes werden gerufen, es wird gejault, gejammert, geseufzt, Fäuste werden auf den Boden geschlagen, traurige Lieder gesungen, fröhliche Lieder gesungen, Mütter verflucht, Götter beschimpft, Nasengeputzt, weinende Kinder beruhigt, Schlaflieder gesungen, und mein Herz dröhnt in meinem Schädel. Mutter kniet auf einer Decke. Die Frau, der sie helfen will, ist rot. Adern treten auf ihrer Stirn und ihrem Hals hervor. Ich kann nicht hinsehen. Ich wende mich ab. Ich rieche Scheiße. Eine alte, behinderte Frau zuckt auf einer Matte. Nur ihre Arme flattern. Sie ist querschnittsgelähmt. Inkontinent. Sie ruft den Namen eines Mannes. Niemand kommt. Ich blicke auf. Die Scheinwerfer an der Decke, die Körbe der Arena an einem komplizierten System blauer Metallarme, die eingeklappt sind. Hier werden noch sehr lange keine Punkte mehr gemacht.
    Auf der anderen Straßenseite kam ein alter Mann aus seinem Haus, langsam trippelnd, als wären seine Schuhe zu klein und aus Holz. Er trug

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