Scherben
seine Mutter und seine Schwester mitgenommen und vergewaltigt, seinem älteren Bruder haben sie ein paar Finger und die Nase und die Ohren abgeschnitten, die Augen ausgeschabt und die Eier aufgeschlitzt, und dann haben sie Mustafa gezwungen, darauf rumzukauen, das zu essen. Schreckliche Geschichte. Dann haben sie gesagt, wenn er weiterleben wolle, müsse er seinem Bruder die Kehle durchschneiden, und das hat er gemacht. Kannst du dir das vorstellen? Für das Letzte kann ich mich nicht verbürgen, aber der Rest ist die reine Wahrheit.«
Juni
Brankas Büro im Haus der Jugend roch nach bürokratischem Staub, konservativem Parfüm und Zwiebelschweiß. Als Garderobe war es nicht besonders geeignet. Überall standen Möbel rum: sperrige Schreibtische, verwaiste Stühle, gelbe Regale, die bis unter die Decke vollgestellt waren mit Schwarten, die einen schon langweilten, wenn man sie nur ansah. DieMädchen hatten überall ihr Zeug herumliegen lassen; Kisten mit ihren Requisiten und Kostümen standen auf dem Boden und sahen aus, als wären sie explodiert. Sie waren zuerst im Büro gewesen und hatten sich alle Zeit der Welt gelassen, jetzt waren wir dran mit Umziehen, hatten aber nur noch fünfzehn Minuten bis Vorstellungsbeginn.
Es stand eine Art Generalprobenmarathon auf dem Programm, alle drei Stücke hintereinander mit nur fünfzehn Minuten dazwischen, Beginn um drei. Branka wollte, dass das mit Edinburgh klappte und hatte alle hohen Tiere und hochrangigen Militärs eingeladen. Die für das Ausstellen von Papieren zuständige bürokratische Maschinerie war in Bosnien schon zu Friedenszeiten riesig und unüberschaubar gewesen, und jetzt war noch das Militär dazugekommen und hatte das letzte Wort. Egal, wie man es drehte, jeder Bürger, der sein Land im Krieg verließ, wurde zu einem nationalen Sicherheitsrisiko, vor allem, da die Bevölkerung täglich enorm dezimiert wurde und ein Ende des Krieges nicht in Sicht war. Doch Branka hatte Beamte auf allen Ebenen so lange genervt, bis General Lendo, dessen Unterschrift einen Pass gültig werden ließ, sein Erscheinen für den Abend zugesagt hatte.
»Was, wenn ich so auf die Bühne gehe?«
Wir drei drehten uns zu Bokal um, der mit schwarzen Socken, einer babyblauen Unterhose, einem zerknitterten weißen Hemd und einer Krone auf dem Kopf an der Tür stand. Er spielte den König im »Traum vom kleinen Prinzen«, dem ersten der drei Stücke. Wir lachten.
»Das ist kein Witz. Es ist verdammt heiß, Mann.«
Es war wirklich kein Witz. Draußen waren vierzig Grad, die Luft war beim Einatmen heißer als beim Ausatmen. Jede Stelle des Körpers, die eine andere berührte, war feucht. Sogar die Augenlider klebten aneinander, wenn man blinzelte, man musste tatsächlich Kraft aufwenden, um sie voneinander zu lösen. Man wollte einfach nur nackt sein, alle viere von sich strecken und in der Luft schweben.
»Halt bloß die Klappe«, sagte Asmir, der in seinem schmutzigen Wintermantel und der Wollmütze längst schweißgebadet war. Er spielte den Betrunkenen. Der kleine Boro und ich kicherten. Unsere Kostüme waren identisch und ziemlich leicht im Vergleich zu denen der anderen.
Dann klopfte es leise an der Tür, und Brankas blonder Schopf erschien.
»Er ist da«, sagte sie.
»Mama!«, protestierte Boro.
»Spielt keine Rolle, wer da ist«, sagte Asmir. Branka funkelte ihn hasserfüllt an.
Zwischen ihnen herrschte beiderseitige Abneigung. Asmir hielt sie für eine herzlose, talentfreie, eigennützige Bürokratin, Branka hielt ihn für ein egoistisches, überhebliches, ungebildetes Arschloch, und keiner von beiden verbarg seine Gefühle vor dem anderen. Beide waren Kontrollfreaks, die einander brauchten und sich genau deshalb hassten.
»Doch, es spielt eine Rolle, Asmir. Wenn wir die Papiere bekommen wollen, müssen wir ihm zeigen, dass wir’s ernst meinen.«
» Wir «, sagte Asmir, zeigte auf uns und schloss Branka dreist aus, »meinen es ernst. Wir haben es immer ernst gemeint. Wir müssen nichts anders machen, um irgendjemandem irgendetwas zu beweisen, schon gar keinem Karrieresoldaten, der in seinem ganzen Leben noch kein Buch gelesen hat.«
Brankas Augen verengten sich zu Schlitzen. Ich sah Boro an, und wir verdrehten die Augen. Bokal dagegen war ganz auf Asmirs Seite und beeilte sich, etwas zu tun, um die Situation zu Asmirs Gunsten zu entscheiden. Lässig zog er seine Unterhose aus. Asmir kicherte wie ein Teenager.
»Asmir, kann ich bitte kurz mit dir sprechen?
Weitere Kostenlose Bücher