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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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in London bleiben?«
    »In Zagreb, auf dem Rückweg.«
    »Wozu?«
    »Um Papiere für eine Ausreise nach Amerika zu bekommen.«
    Hitze überkam mich, es war, als würde ich spontan in Flammen aufgehen. Sie breiteten sich von innen her aus, tränkten mein Fleisch.
    »Dein Onkel Irfan hat heute angerufen«, sagte Vater. »Er sagt, dass du kommen und bei ihm in Kalifornien wohnen sollst. Dass du aufs College gehen kannst.«
    Mein Kopf war leer.
    »Also, was hältst du davon? Ismet!«
    Ich sah Mutter an, sah ihren besorgten Blick. »Und du? Was denkst du?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Auf dem Bildschirm spielte ein grauhaariger Mann stumm Gitarre, die Sängerinnen hinter ihm klatschten geschlossen in die Hände.
    »Ich glaube, ich will zurückkommen«, sagte ich.
    Vater lehnte sich auf seinem Schaukelstuhl zurück und wandte sich dem Bildschirm zu, fahrig rieb er sich mit der Hand übers Gesicht, schabte über die kurzen Stoppeln. Mutter zog an ihrer Zigarette. Ich konnte hören, wie der Rauch durch den Filter und in ihre Lungen gesogen wurde. Als er wieder rauskam, war er so tonlos wie der Fernseher und stieg gemächlich zur Decke auf.
    »Ich weiß nicht, was das Klügste ist«, sagte mein Vater. »Wer weiß, wie lange der Krieg noch dauert. Das kann noch Jahre so weitergehen oder morgen zu Ende sein.«
    »Morgen bestimmt nicht«, sagte meine Mutter gehässig.
    »Wieso wollt ihr nicht, dass ich zurückkomme?«
    »Das wollen …«, setzte mein Vater an.
    »Weil ich mich umbringe, wenn du an der Front stirbst«, fiel ihm Mutter ins Wort.
    Der Raum drehte sich, der grauhaarige Mann schrammelte auf seiner Gitarre, die drei Frauen hinter ihm klatschten, und der Rauch stieg zur Decke auf. Alles bewegte sich, ohne ein einziges Geräusch.
2. August
    »Wann rufst du mich morgen an, du Nuss?«, fragte Asja, und ich war wütend. Es war acht Uhr morgens, wir saßen auf unserer Lieblingsbank im Stadtpark, und ich hatte ihr gerade erzählt, dass die Chancen nicht schlecht standen, dass Lendo unsere Papiere unterzeichnete – wir sollten es später am Vormittag erfahren.
    Ihre Stirn war eine Bergkuppe. Der Wind wehte ihre Haare hoch und ließ sie wieder sinken und wehte sie erneut hoch und ließ sie wieder sinken.
    »Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«, fragte ich.
    »Mein Vater wird den ganzen Tag zu Hause sein, aber meistens geht er um zehn runter und arbeitet am Auto«, sagte sie.
    »Sieh mich an«, sagte ich, aber sie wollte nicht.
    Stattdessen drückte sie mir einen Kuss auf die Lippen, unerwartet, und weil ich spürte, dass es ein kurzer, vernichtender sein würde, begegnete ich ihm mit mehr Intensität, meine Lippen suchten Halt an ihren, versuchten, den süßen Kontakt in die Länge zu ziehen, und dann war alles vorbei. Sie stand auf, erklärte mir, ich solle sie am nächsten Morgen anrufen und ging für immer fort. Ich sah, wie sie, eben noch ein warmer Körper neben meinem, zu einem Geist amEnde der Straße wurde, ihr pfirsichfarbener Rucksack hüpfte leicht, geräuschlos, ihre Hand hob sich zu einem Winken, dann – Laub.
    Ich wartete darauf, dass das Amt für Ausweispapiere aufmachte. Ich muss wohl wie ein niedergeschlagener, jungfräulicher Spätentwickler mit Liebeskummer ausgesehen haben, jedenfalls war das Erste, was Asmir sagte, als er mit Bokal ankam: »Warum so traurig? Du hast es ihr noch nicht mal besorgt. Mit achtzehn hatte ich schon mehr Sex als Salat.«
    Er wuschelte mir durchs Haar, als wäre ich sein blöder Neffe oder so, und ich schlug seine Hand weg.
    »Nimm deine scheiß Finger weg!«
    »Hua«, rief er und versuchte den Schmerz abzuschütteln, als wär’s eine Krabbe, die an seinem Finger klemmt.
    Erst jetzt fiel mir auf, dass Asmir neue Klamotten hatte. Er trug eine Levi’s, keine echte zwar, wahrscheinlich in der Türkei hergestellt, aber knackig und pechschwarz und schick, dazu ein gestreiftes Polohemd, und in jeder Hand hielt er eine Plastiktüte mit noch mehr Sachen. Beide hatten brandneue Converse All Stars an, ebenfalls fake.
    »Woher hast du das ganze Zeug?«
    »Unsere Truppe wurde von einer ungenannten deutschen Hilfsorganisation gesponsort«, sagte Asmir.
    »Zumindest einigen ihrer Mitglieder«, setzte Bokal hinzu, und die beiden kicherten wie kleine Kinder.
    »Ihr habt Fördergeld für die Truppe bekommen und seid Klamotten kaufen gegangen?«
    »Weißt du, was ich für das Fördergeld machen musste?«
    »Was?«
    »Sechsmal, nein, fünfeinhalbmal musste ich einer

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