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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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eine schwarze Baskenmütze, so wie Generationen von Muslimen in dieser Gegend. Sie war zu klein für seinen großen, weißen Kopf und wirkte albern. Er ging ums Haus, tauchte mit einer Axt in der Hand wieder auf und ging quälend langsam zu einem vertrockneten Pflaumenbaum in einer Ecke des Gartens.
    Ist das sein Großvater?
    Er sah an dem Baum hinauf, schüttelte traurig den Kopf, legte die Hand an den sonnengebleichten Stamm und drückte dagegen. Die Baumkrone raschelte und einige braune Blätter segelten hinab in den Garten.
    Sein Vater?
    Zack , schlug die Axt in den Stamm. Die Schläge des Alten waren präzise und bedächtig, er wusste, was er tat. Holzsplitter stoben von seiner Axt wie Funken.
    » Merhaba , Großvater«, hörte ich mich sagen, und dann sah ich mich über die Straße auf ihn zugehen. Der Mann drehte sich um, wollte sehen, wer da war, dann stützte er sich auf die Axt wie auf einen Stuhl.
    » Merhaba , mein Sohn, Merhaba .«
    »Zeit zu arbeiten, hm?«
    »Ja … wurden im Frühjahr getroffen. Eine Granate. Ist genau da ins Fundament eingeschlagen und die Kugeln haben im Garten allerhand Schaden angerichtet.«
    »Keine Kugeln, Großvater. So was nennt man Granatsplitter.«
    »Das Zeug ist aus Metall, fliegt schnell, tötet und zerstört. Für mich sind das Kugeln.«
    »Stimmt«, sagte ich.
    »Die kaputten Fenster oder der Ziegenbock haben mir nichts ausgemacht, aber der Pflaumenbaum hier. Vor dreißig Jahren hab ich ein Stöckchen in die Erde gesetzt, das war nicht dicker als mein kleiner Finger, und jetzt sieh ihn dir an. Jeden Winter hab ich ihn in Plastik gepackt. Hab Käfer und Würmer mit den Fingern abgepflückt, jeden einzeln. Ich hab Taubenscheiße vom Dach gekratzt, mit Wasser gemischt und ihn damit gegossen. Das war der beste Pflaumenbaum in Mejdan. Aber diese Tiere … diese Bergmenschen … sieh ihn dir an.«
    Er griff nach oben und bog einen der kleinen Zweige. Er brach in seiner Hand.
    »Siehst du«, sagte er, brach ihn mühelos an drei Stellen und zeigte mir die traurigen Stöckchen. »Nichts.«
    »Das ist nicht nichts«, sagte ich. »Das ist gutes Feuerholz.«
    »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte der alte Mann. »Meine Söhne haben dasselbe gesagt, aber nicht mal ihnen hab ich erlaubt, ihn zu fällen. Haltet euch bloß von dem Baum fern, hab ich gesagt, ich dachte, vielleicht schafft er es noch mal, vielleicht verjüngt er sich. Gott kann das bewirken. Aber ich mag es nicht mehr mit ansehen. Jedes Mal, wenn ich hingucke, gibt mir das einen Stich in die Brust. So schade. Über dreißig Jahre. Im Ofen verheizt.«
    Ich schüttelte mitfühlend den Kopf. Wir standen zusammen und betrachteten den Baum. Die Augen des Alten waren feuchte Schlitze mit tiefen Krähenfüßen.
    »Sind Sie zufällig ein Nalić?«, fragte ich ihn, überrascht von mir selbst.
    Er trat näher an seine Seite des Zauns – hielt seine Baskenmütze fest, als hätte er Angst, ein Windstoß könne sie ihm vom Kopf ziehen – und sah mich an.
    »Nein.«
    »Kennen Sie jemanden von der Familie?«
    »Zwei Flüchtlinge haben bei mir gewohnt, Brüder.«
    »Mustafa?«
    »Ja, der ist jetzt bei der Armee.«
    »Wie bitte?«
    »Kommando, hab ich gehört.«
    »Ein großer Kerl mit Bart?«
    »Kennst du ihn?«
    »Wir wurden am selben Tag gemustert.«
    »Bei welcher Einheit bist du?«
    »Ich weiß es nicht. Ich komme erst im September hin.«
    »Mustafa ist seit einem Jahr bei der Armee, mein Sohn.«
    Ich sah auf die Armbanduhr, die ich nicht hatte, und rieb die Stelle, an der sie gesessen hätte, hätte ich eine gehabt.
    »Wann haben Sie zum letzten Mal von ihm gehört?«
    »Gestern. Er hat mir Maisbrot gebracht.«
    »Ich glaube, ich meine einen anderen Mustafa«, sagte ich. »Ich suche die Familie eines Mannes, der beim letzten großen Angriff umgekommen ist.«
    »Bakir?«
    »Wer ist Bakir?«
    »Mustafas Bruder.«
    »Warum steht dann auf seinem Grab Mustafa?«
    »Auf dem Grab steht Mustafa?«
    »Und da ist auch ein Bild von Mustafa drauf!«
    »Machst du Witze, mein Sohn?«
    »Nein, bei Gott, Großvater.«
    »Dann weiß ich auch nicht«, sagte er. »Ich muss Mustafa fragen.«
    Ich ging gerade zwischen fußballspielenden Kindern über den Parkplatz vor unserem Haus, als die Lichter im Viertel angingen. Die Kinder jubelten und rannten nach Hause zu ihren Fernsehern und Atari-Konsolen. Innerhalb von drei, vier Sekunden waren alle weg. Nur der Junge, mit dessen Ball sie gespielt hatten, blieb noch einen Augenblick länger, um sein

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