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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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geschoben, sein Tarnhemd war unter den Armen feucht. Ich beobachtete ihn. Seine Brauen wölbten sich finster über seinen Augen, aber in seinem Blick lag auch etwas beinahe Furchtsames. Er hörte Boros Eröffnungsmonolog zu, als würde er sich für etwas schämen. Man sah ihm an, dass er überall sonst lieber gewesen wäre als in diesem Saal, wo ihm ein langhaariges Kind mit großen Augen einfache, aber eindringliche Worte vor den Latz knallte. Man sah ihm an, dass er die Front bevorzugte, wo sich die Welt in uns und die anderen teilte und wo ein Mann von seinen Muskeln lebte, nicht von seinem Gehirn, weil alles kristallklar war und nichts der Interpretation überlassen blieb und man seinen Kopf überhaupt nicht benutzen musste, außer um Manöver zu planen, zu träumen und sich zu erinnern.
    Ich könnte behaupten, dass er uns deshalb nach Schottland fahren ließ, weil wir seinen wunden Punkt getroffen hatten, weil unsere Kunst ihn berührt, ihre Wahrhaftigkeitihn erreicht hatte, weil er begriff, dass wir es wirklich verdient hatten, der Welt zu zeigen, dass es in Bosnien Schönheit gab, und wir nicht nur die Opfer von Geisteskranken waren, Experten im Leiden, verzweifelt um Hilfe Bettelnde, die in ihren Städten vor sich hin vegetierten und darauf warteten, gerettet zu werden, während die Welt auf CNN zusah. Das könnte ich behaupten, aber es wäre nicht die Wahrheit.
    Die Wahrheit ist, dass er sich nur das erste Stück ansah, um sich zu vergewissern, dass wir kein Haufen Betrüger waren, und ich nehme an, dass uns das gelang. Während dieser anderthalb Stunden drangen wir nur einmal zu ihm durch, und das hatte rein gar nichts mit unserer Kunst zu tun, sondern mit einem Fehler. Wir drangen zu ihm durch in genau dem Moment, als Bokal aus seiner Rolle fiel und die Kunst von der Realität durchbrochen wurde.
    In unserem Stück herrscht ein König über einen Planeten, dessen einziger Bewohner er selbst ist, und als der kleine Prinz auftaucht, will ihn der König überreden zu bleiben, damit er endlich einen echten Untertan hat. Der kleine Prinz kapiert ziemlich schnell, dass die Befehle des Königs sinnlos sind, und will wieder verschwinden. An genau der Stelle – ich wollte mich gerade zum Publikum umdrehen und den Satz sagen, mit dem die Szene endet, das Fazit des kleinen Prinzen über die Sonderbarkeit der Erwachsenen – da räusperte sich Bokal und donnerte folgende Worte:
    »Na schön. Du darfst gehen. Du darfst gehen, wenn dich Lendo gehen lässt.«
    Einige im Publikum schnappten hörbar nach Luft.
    Andere lachten spöttisch auf, versuchten es als Husten zu tarnen und verstummten. Momentelang fühlte ich mich körperlos, staunte darüber, wo ich mich befand, wer ich war, was ich wollte, dass ich so schwitzte. Ich blickte durch mein langes nasses Haar und sah den angespannten Kiefer des Generals, sah seine Adjutanten, erstarrt in Erwartung seiner Reaktion.Nach einigen Sekunden entspannten sich seine Gesichtszüge, und er fing an zu lachen. Er lachte wie befreit, als wäre er alleine oder bei Freunden. Das restliche Publikum folgte, jetzt gefahrlos, seinem Beispiel. Mir fiel meine Zeile wieder ein, ich trug sie vor und machte mich auf den Weg zu einem anderen Planeten, während Omar die Titelmelodie spielte.
    Am nächsten Tag wurden wir aufgefordert, unsere Papiere zusammenzusuchen und uns fotografieren zu lassen.
    Zum Glück und seltsamerweise war niemandem aufgefallen, dass Ramonas Schmeisser echt war.
Ende Juli
    Als ich gerade aufgegeben hatte, nach Leuten zu suchen, die Mustafa kannten, fiel mir eine Information in den Schoß, die vermeintliche Adresse seiner Familie in Mejdan. Ich ging zu Omar und versuchte ihn zu überreden mitzukommen, Mejdan war ein verrufenes Viertel, aber er hatte eine Flasche Farbverdünner im Keller gefunden und wollte sie schnüffeln.
    »Ich kann nicht alleine gehen, Mann.«
    »Ich weiß, was dir Mut machen wird«, sagte er und ließ eine Plastiktüte mit einem getränkten Lappen vor meiner Nase baumeln.
    Ich sah mich selbst: Ich weine und küsse Asja auf einer Brücke, sie wendet sich ab und geht weg, und ich versuche ihr nachzugehen, aber als ich um die Ecke biege, ist es Nacht in einer fremden Stadt, und der aufgewühlte Himmel schüttet Wasser über mir aus, und durchnässt springe ich unter die Brücke und rutsche im Gras aus und schlittere die Uferböschung hinunter in den Fluss, der zugefroren ist, und ichdenke, ich bin ein dickes Kind, bis ich an mir herunterblicke und meine

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