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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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denen die Ringfinger fehlten, faulend auf einem Haufen neben dem Gemeindebrunnen. Sein Magen drehte sich um beim Anblick einer Sau, die ihre Schnauze nicht weit davon in einen Tümpel vergrub, und die Schnauze war rot von Menschenblut und dreckverkrustet. Seine Tränen flossen, und seine Zunge fluchte, und sein Gehirn begriff, dass Kralle recht hatte, denn was dort inmitten der Hölle stand und all das in sich aufnahm, weinend, sterbend, das war nichts als Fleisch.
    Er selbst aber befand sich nicht in diesem Fleisch. Auf keinen Fall.
Er kam wieder zu sich, als die großkalibrige Kugel eines Heckenschützen Steamboat den halben Kopf wegriss und Kralle »Hinterhalt! Rückzug!« brüllte und ihn bei seinem richtigen Namen rief, damit er ihm half, Steamboats Fleisch runter in die Gräben zu tragen, weil man keinen Mann zurückließ.
    Er nannte ihn Mustafa, und der war er.

(… unterwegs nach edinburgh …)
Armseligkeit
    Im Mondschein, aus dem fahrenden Bus betrachtet, wirkte Tuzla monochrom und unbewohnt. Dunkle Fenster klafften in grauen Fassaden. Liegen gebliebene Limousinen, abgedeckt mit Planen, säumten die Straßen wie riesige Leichensäcke. Es sah aus wie Archivmaterial aus einer nächtlichen Doku im History Channel, die von irgendwas Traurigem handelte, das vor langer Zeit an irgendeinem anderen Ort passiert war.
    Im Inneren des Busses war es still und gespenstisch, wie in einem Fiebertraum. Vertraute Gesichter waren gerade weit genug entfernt, dass man nicht sicher sein konnte, ob man sie kannte oder nicht, ob die Menschen, zu denen sie gehörten, die eigenen Freunde, wirklich da saßen oder ob man sich das nur einbildete, um sich besser zu fühlen.
    Wir fuhren am Fußballstadion vorbei und kreuzten Asjas Straße. Die Stirn an die vibrierende Scheibe gepresst, stellte ich mir vor, ich könnte durch zwei Gebäude hindurch in ihr Zimmer sehen, wo sie in Mondlicht getaucht wachlag, sich berührte und an mich dachte. Irgendwas in mir rebellierte gegen diese Fantasie, schreckte vor ihrer Abgedroschenheit zurück, vor meiner eigenen Armseligkeit. Wach auf, du verlässt sie, du Arschloch. Doch schon bald stellte ich mir meine heldenhafte Heimkehr vor: wie ich tagsüber und in Farbe ihre Straße entlangkam, das Haus betrat und an ihrer Haustür klingelte, wie sie die Tür öffnete und mich in ihrenArmen empfing, bevor sie vor Glück ohnmächtig wurde. Du tust das Richtige … Nein, du bist ein Loser , sagte ich zu mir, ein Weichei.
    Wir fuhren vorbei an der befremdlichen Skyline des Industriegebiets, um die Schleife bei Šićki Brod herum und weiter Richtung Kladanj. Fünf Minuten hinter der Stadt waren wir weiter von zu Hause entfernt als irgendwann sonst seit Kriegsbeginn.
Kontrollpunkt
    Ich träumte von einem Mann, der auf Baby-Waschbären in einer Kiste herumtrampelt, und als ich aufwachte, stand der Bus, und ein Soldat prüfte vorne die Papiere. Omar saß neben mir, hörte etwas auf seinem Walkman, das in meinen Ohren nach Nieselregen klang. Ich stupste ihn.
    »Kontrollpunkt«, sagte er zu laut, weil er den Krach in den Ohren hatte. Der Soldat blickte in unsere Richtung, dann trat er auf die nächste Sitzreihe zu.
    Ich hörte das Knacken einer Plastikflasche vom Sitz hinter mir, ein hastiger Schluck, dann schraubte jemand den Deckel wieder drauf. Omar und ich saßen in der Mitte des Busses, an der Grenze zwischen Asmirs Truppe vorne und etwa zwanzig Berufsschauspielern vom Nationaltheater hinten. Ein schwacher Geruch von Pflaumenschnaps drang zu mir. Omar roch es auch, zeigte nach hinten und hielt sich eine imaginäre Flasche an den Hals. Wir grinsten.
    Der Soldat kam näher. Das Gewehr über seiner Schulter war alt, aber echt. Ich griff nach meinem Pass, aber er steckte nicht in meiner Tasche. Eine heiße Woge durchflutete mich, ich geriet in Panik und fing an, meinen Rucksack zu durchwühlen. Omar tippte mir auf die Schulter und zeigte mir, dass er seinen und meinen Pass hatte.
    »Ich bin fast gestorben vor Schreck«, sagte ich.
    Er nahm seine Kopfhörer ab und der Nieselregen wurde zur vertrauten Abfolge dreier Akkorde eines Ramones-Songs.
    »Während du geschlafen hast, hast du drei Kontrollpunkte verpasst«, sagte er.
    »Ach, echt?«
    Jetzt waren wir an der Reihe, und Omar übergab dem Soldaten unsere Pässe. Er betrachtete die Fotos, dann starrte er in unsere Gesichter. Seine Augen waren wie gestanzte Löcher in einer Maske.
    »Wo sind wir?«, hörte ich mich fröhlich fragen.
    »In der Fotze deiner

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