Scherben
Tut mir leid.«
Es kam ihm ein bisschen feucht und genuschelt aus dem Mund, da der Granatsplitter auch den Großteil der Zähne des Mannes zertrümmert hatte. Er hatte tiefe Falten, die seine Mundwinkel nach unten zogen und sein Gesicht entstellten. Er vollführte eine Bewegung, eine Art Schulterzucken, doch es wirkte auf so groteske Weise von Mitleid durchtränkt, dass Mustafa an der Tür erstarrte. Der Ellbogen des Mannes und das, was von seinem Unterarm übrig war, waren so dick verbunden, dass es aussah, als hätte er eine Handpuppe mit einem Turban überzogen, durch den ein blutfarbener Fez schimmerte.
»Apachen werden an die schlimmsten Frontabschnitte geschickt. Ihre Lebenserwartung beträgt ungefähr zwei Wochen. Unser Schreihals da, der war auch Apache«, fuhr der Amputierte fort. Sein Stumpf hüpfte in der Luft, wollte die Worte unterstreichen.
»Was redest du da?«, fragte Mustafa, noch immer an der Tür. Der Mann am Fenster hörte abrupt auf zu schreien, und jemand dankte Gott.
»Der Brief. Du kommst zu den Apachen.«
»Der Brief ist nicht für mich.«
Apachen waren jung und verrückt. Sie trugen Stirnbänder, Rock’n’Roll-T-Shirts und Kriegsbemalung im Gesicht: grüne und schwarze und braune Spiralen. Ihre Augen waren ausdruckslos durch das, was sie gesehen hatten, und unter ihren Fingernägeln klebten Dreck, Blut und Krieg. Manche waren nur Haut und Knochen, andere hatten noch Babyspeck auf den Wangen und im Nacken. Einer, den sie Ninja nannten, trug ein Samurai-Schwert auf dem Rücken und sprach nie. Ein anderer, Kralle, hatte eine kleine Armbrust und konnte einfach nicht die Klappe halten. Sooty hatte immer eine Hand in der Hose. Steamboat war wie ein alter amerikanischer Spritfresser in Gestalt eines europäischen Zweitürers. Sie waren alle wie irgendwas.
Apachen salutierten nicht, und der Hauptmann konnte sie nicht dazu zwingen. Sie mussten nicht strammstehen, ihre Uniformen in Ordnung bringen oder sich rasieren – nichts von dieser ganzen sinnlosen Disziplinscheiße. Sie mussten lediglich aberwitzige Missionen erfüllen oder dabei draufgehen.
»Was ist das?«, fragte Kralle den Hauptmann, als er vor Mustafa stand und ihn direkt ansah. Seine Pupillen flatterten nach oben und er blinzelte mehrmals, damit sie wieder runterkamen; es war ein Tic. Mustafas Blick fiel auf den Boden der Scheune, der mit Schafskötteln übersät war. Kralles Atem roch ranzig.
»Das ist mein Geschenk an dich«, sagte der Hauptmann, ohne auch nur das geringste Nicken in Mustafas Richtung, als wäre er nicht einmal das wert. Er beugte sich über etwas, das nach einem auf die Seite gekippten alten Kühlschrank in einer schäbigen Holzkiste aussah. Darauf lag eine Landkarte.
Kralle schüttelte angewidert den Kopf, und sein Tic übernahm erneut die Kontrolle über sein Gesicht. Er sah aus wie ein Androide, der neue Informationen verarbeitete. Mustafa fühlte sich genötigt, etwas zu sagen, da Kralle direkt vor ihm stand und Wolken aus Fäulnis absonderte.
»Ich bin Mustafa«, sagte er und versuchte, seinen Atem mit dem von Kralle zu synchronisieren, um ihn nicht riechen zu müssen.
»Bist du nicht«, flüsterte ihm Kralle mit einer solchen Überzeugung ins Ohr, dass Mustafa ernsthaft überlegte, ob er wirklich der war, der er zu sein vorgab. Er wollte widersprechen, doch hinter ihm war etwas Hartes, eine Scheunenwand. Kralle kam ihm so nah, dass seine Lippen Mustafas Ohrmuschel berührten und ihm ein eigentümlicher Schauer übers Bein lief.
»Mustafa ist der Name von einem, der entweder tot ist oder am Leben. Der Name meines Großvaters war Mustafa. Er ist tot. Im Moment bist du weder das eine noch das andere. Dein Name ist Fleisch. Alle Neuen heißen bis auf weiteres Fleisch. Mein Name war auch Fleisch. Falls du die ersten beiden Wochen überlebst, bekommst du einen richtigen Apachennamen. Wir wollen zu einem künftigen Kadaver keine Beziehungaufbauen. Und solltest du dich fragen: warum ich? wie bin ich bei diesen Geisteskranken gelandet? womit habe ich das verdient? – das sind alles legitime Fragen, die du entweder den Befehlshabern, Gott oder dir selbst stellen musst. Ich kann nur sagen, tut mir leid, so sind deine Bohnen nun mal gefallen.«
Auf Bosnisch reimte sich der letzte Satz: Meni je žao, al’ tako ti je grah pao , eine Art fatalistischer kleiner Reim, der illustriert, wie machtlos wir den Launen des Universums ausgeliefert sind. Kralle lächelte, aber nicht mit den Augen, und beugte sich mit dem
Weitere Kostenlose Bücher