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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Mutter«, sagte der Soldat und warf Omar die Pässe in den Schoss.
Dummheit auf dem Granaten-Highway
    Der Bus folgte den Serpentinen einer Bergstraße. Das Einzige, was man in der Dunkelheit erkennen konnte, war die gezackte Demarkationslinie zwischen der undurchdringlichen Schwärze dicht stehender Nadelbäume und der wässrig dunklen Leere des Himmels, der durchlöchert war von blassen, pochenden Sternen. Omar hing wie erschlagen auf seinem Platz und schlief. Ganz hinten schnarchte jemand. Ich dachte an meine Mutter, drückte den Kopf an die Scheibe, wollte die Vibration meine Gedanken vertreiben lassen.
    Die Straße wurde flacher, der Bus fuhr langsamer. Ein Rückkopplungsfiepen kam aus den Lautsprechern. Der Fahrer kündigte an, dass er für die nächsten paar Kilometer die Scheinwerfer ausschalten würde. Er sagte, wir überquerten eine Hochebene, die für die Tschetniks deutlich einsehbar sei, weshalb dieser Abschnitt unter Busfahrern als Granaten-Highway bekannt sei.
    Blind kroch der Bus im Mondschein voran. Der Kerl hinter mir, ein Mann in den Fünfzigern mit Super-Mario-Schnurrbart, kippte sich noch einen Schluck Sliwowitz hinter die Binde. Er räusperte sich, was klang, als würde er an seiner eigenen Kotze ersticken. Danach wurde es still, unheimlich still. Ich schaute nach vorne zu den anderen, sah Omar, Boro, Ramona, die alle wach waren, erschöpft und überdreht, in Erwartung dessen, was die Zukunft bringen würde.
    Dann zündete sich Super Mario eine Zigarette an.
    Alle im Bus schnappten nach Luft. Anschließend hielten sie den Atem an.
    »Mach das Scheißding aus!«, zischte der Fahrer über Lautsprecher.
    Omar stand auf, griff über die Rückenlehne und riss dem Mann die Zigarette aus dem Mund. Er nahm einen kurzen Zug und zerdrückte sie im Aschenbecher vor sich. Wir sahen einander ein, zwei, drei, vier Sekunden lang an, als der Bus seitlich von etwas getroffen wurde, ein blechern knackendes Geräusch, wie wenn ein Steinchen die Windschutzscheibe trifft. Eines der Mädchen vor uns schrie. Der Fahrer fluchte, der Motor heulte auf wie ein Jet kurz vor dem Abheben. Durch die Geschwindigkeit wurde mein Kopf an die Rückenlehne gedrückt.
    Die Jüngeren schrien und schrien, und der Bus raste wie verrückt durch die schwarze Welt.
Zu Unrecht beschuldigt
    In Kladanj parkten wir unweit einer Moschee, deren Minarett keine Spitze mehr hatte, die Nachbildung eines abgebrochenen Bleistifts. Niemand im Bus war verletzt. Der Fahrer, sein Beifahrer, Branka und der Präsident des Nationaltheaters gingen mit Taschenlampen nach draußen, um den Schaden zu begutachten. Die Lichtkegel fanden ein einziges Einschussloch weit oben im Fenster über mir.
    Die Angst verflüssigte sich in meinem Magen, und plötzlich musste ich sie wegpinkeln. Ich ging nach vorne und streckte den Kopf aus dem Bus.
    »Ich muss aufs Klo«, sagte ich. Der Fahrer richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf mich.
    » Hajvanu , du hättest uns fast alle umgebracht«, sagte er und fuchtelte mit den Armen, und die Bewegung des Lichtkegels brachte Details der Nacht zum Vorschein, ein Loch im Maschendrahtzaun vor dem Haus neben der Moschee, einen umgekippten Betonpfosten am Bordstein, einen schwarzen Gummischuh.
    »Du hast Glück gehabt, dass die keine Mörser hatten, du verfluchter Idiot.«
    Ich trat auf die Straße. Die Nacht war undurchdringlich. Irgendwo plätscherte ein Fluss. Ich ging an den vieren vorbei zu einem von Gestrüpp flankierten Schuppen.
    »Super Mario hat die Zigarette angezündet«, sagte ich.
    Das Gestrüpp entpuppte sich als Brennnesseln. Ich pisste hinein.
Der Präsident gegen den Konvoi
    Der Bus kroch eine schmale, in den Berg gehauene Schotterstraße hinunter, rechts kratzte die aus der zerklüfteten Felswand sprießende Vegetation an die Scheiben, links streiften wir den Rand eines unwägbaren Abgrunds, und plötzlich merkte ich, dass ich schon einmal hier gewesen war, mit dem Unterschied, dass ich jetzt in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Dies war Tuzlas einzige Arterie, die Straße, über die sich meine Familie zu Beginn des Krieges wieder in dieStadt geschlichen hatte. Hier hatte meine Mutter ihr Déjà-vu gehabt, hier hatte sie die Flasche Cognac bereitgehalten, für den Fall, dass uns die falschen Soldaten aufhielten, hier mussten alle Passagiere aussteigen und den Bus die Steigung hinaufschieben. Drei Jahre später war die überstrapazierte Straße noch gefährlicher geworden, obwohl wir diesmal in einem besseren Bus

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