Scherben
dich.«
Dieses Mal musste er ihn ein bisschen fester schubsen, damit sich Nebojša in Gang setzte. Er ging los, konzentrierte sich auf den Totenkopf und schluchzte. Er hielt sein Gewehr mit zwei Fingern, so weit wie möglich von sich entfernt, und schluchzte immer weiter.
Refa widmete sich wieder dem Spiel, und Mustafa kotzte noch einmal.
Am nächsten Tag wurden Refa, Nebojša und Mustafa wieder vereint. Mit dem Laster, der das Essen in die Schützengräben brachte, kamen auch zwei Männervon der Militärpolizei, die Refa wegen Trunkenheit im Dienst und unnötiger Gefährdung seiner Kameraden verhafteten, weil er einen bewaffneten Feind ohne Vorwarnung in die Kommandozentrale geschickt hatte.
»Ich hab ihm gesagt, er soll sagen, ich hab ihn geschickt«, verteidigte er sich mit heiserer Stimme, während er in Handschellen zum Laster geführt wurde. »Er hätte uns alle im Schützengraben umbringen können, wenn er gewollt hätte. Aber er wollte nicht. Er wollte sich ergeben, Mann. Jetzt sag es ihnen doch selbst!«
Doch zu dem Zeitpunkt hatte Nebojša, der in Handschellen auf dem Laster saß wie ein gottesfürchtiger Mann vor dem Altar, die Finger ineinander verschränkt, die Hände zwischen die Knie geklemmt, keine große Lust zu reden. Er drehte sein blasses Gesicht ein wenig nach links, als wollte er überlegen, ob er Refa ansehen und antworten solle, schniefte dann aber nur und starrte weiter seine Stiefel an. Er sah aus, als wäre er bereits tot und würde auf seine Wiedergeburt warten.
Die Militärpolizisten brachten den bewusstlosen Mustafa auf einer Trage an Bord, das Gewehr zwischen den Beinen, das Gesicht lodernd vom Fieber; man hätte an seiner Wange eine Zigarette anzünden können. Sie setzten ihn ab wie eine beschlagnahmte Kommode und winkten dem Fahrer, dass er losfahren könne. Refa forderte weiter Gerechtigkeit, wollte sich immer wieder erklären. Sein Gesicht war aufgedunsen vom Kater, durchfurcht von tiefen Falten, sein Selbsterhaltungstrieb war unerschütterlich. Die Militärpolizisten sagten, er solle sich das für den Richter aufheben, wenn es nach ihnen ginge, läge er längst im Sarg.
So ging es hin und her, die Lautstärke nahm zu: Wer wem was antun würde, wenn die Handschellen nicht wären, wer es wessen Mutter besorgen wollte, wie und wo. Wahrscheinlich hätte es blutig geendet, hätte Nebojša nicht geschrien, sie sollten die Klappe halten. Sie verstummten und glotzten ihn verblüfft an.
»Der Mann hier stirbt!«, sagte Nebojša. »Wenn wir sein Fieber nicht senken, erleidet er mindestens einen Hirnschaden.«
Die Militärpolizisten brauchten einige Sekunden, um wieder die Fassung zu erlangen.
»Und woher willst du das wissen, du Klugscheißer?«, zischte einer von ihnen.
»Nein, nein«, unterbrach Refa. »Er weiß Bescheid. Er ist Arzt.«
Und alle blickten auf Mustafas loderndes Gesicht und seine aufgesprungenen, brabbelnden Lippen, die auf ihre eigene halluzinative Weise Erstaunliches aus den Grenzgebieten zu berichten wussten.
Was seine erste Woche im Kampfgebiet hatte werden sollen, wurde zu einer Woche auf einem quietschenden Klappbett ohne Strom und ohne Lektüre, dafür mit fader Linsensuppe. Er schlief inmitten Amputierter, deren Phantomglieder juckten, und inmitten Verrückter, die schrien und schrien und schrien. Dort, im chaotischen Gewimmel des Militärkrankenhauses, fing Mustafa an zu rauchen, und keine Schwester und kein Arzt hielt ihn davon ab; niemand interessierte sich einen Scheiß dafür.
An einem Samstagnachmittag kam per Kurier ein Brief in einem offiziellen Umschlag der Armee, und Mustafa kapierte nicht, dass er für ihn war, obwohl er ihn auf seinem Kissen fand. Ihm schrieb nie jemand, und er glaubte, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Er warf den Brief auf die kaputte Kiste, die ihm als Nachttisch diente, und nahm sich vor, die Schwester zu bitten, ihn seinem rechtmäßigen Besitzer zu bringen. Dann ging er zum Rauchen in den Gang. Das musste er zwar nicht, alle rauchten im Zimmer, aber der Mann am Fenster hatte wieder angefangen zu brüllen, er schrie nach einem, der Steamboat hieß, der ihn bitte nicht zurücklassen sollte, um Himmels willen nicht zurücklassen. Mustafa fühlte sich viel besser, wenn er die Tür zwischen sich und dem Geschrei wusste.
Als er zurückkam, schüttelte der Soldat im Bett neben ihm, der eine Splitterwunde in der Wange hatte und dessen linke Hand fehlte, langsam und furchtsam den Kopf und sagte: »Du bist geliefert, Mann.
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