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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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springt ihnen händeklatschend nach, er balgt sich mit Bürschel herum, mit dieser lustigen, struppigen Gassenmischung von einem Hund. Mutti hat sich lachend ins Gras geworfen und er purzelt über ihre Brust.
    Aus diesen alten Gaukeleien riss ihn Nicko. Von Weitem erkennbar an ihrem ruckartig vornüberfallenden Gang, war die Gestalt ein Stück wegaufwärts auf einem Feldweg sichtbar geworden. »Die werden uns wohl nicht etwa den Dorftrottel mit eingeladen haben, was, Lumpi?« Die Frage war natürlich nur als Spaß gedacht, denn jeder wusste, dass Nicko (»unser nickender Nicko«, der Sohn eines slowakischen Sägemüllers und Säufers in Quemquemtréu) seit vielen Jahren unentwegt irr durch die Gegend strich. Ja, dass er marschieren musste, täglich, vom frühen Morgen an bis in den Abend hinein, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter, verdammt zu diesem vornüberfallenden Schritt und einem ständigen Ringen ums Gleichgewicht, äußerlich einem Körner aufpickenden Vogel ähnlich. Niemand versuchte auch nur, ihn anzuhalten. Wer ihm begegnete, sah zuerst den Speichel aus seinen Mundwinkeln triefen, den starren Blick, der auf den Pfad oder den Feldboden vor seinen Füßen gerichtet war, und keiner konnte begreifen, wie er das aushielt, dieses ständige Sichvorbeugen und Wiederaufrichten den ganzen lieben Tag hindurch. Dem Subjekt musste außerdem eine waldschrathafte böse Kraft innewohnen, denn mehrmals hatte Siegmund einst den alten … na! den alten … auf ihn angesetzt, aber der hatte ihm (eigentlich undenkbar!) den Gehorsam verweigert und war unwillig knurrend zurückgewichen.
    Oft genug ist Rohr diesem Nicko begegnet. Besonders verabscheute er an ihm den typisch verdrucksten, heimtückischen Blick eines kurz geschorenen »Slawenbengels«. Auch Dr. Königsberg gegenüber hatte er sich einmal Luft gemacht und etwas von »lebensunwert« gemurmelt, als jener sich interessiert nach Nicko erkundigte. Und er hatte dem Psychiater mit unverblümtem Abscheu verraten: Diese Ballastexistenz trage immer ein Stöckchen mit einem aufgespießten Schwamm unter den Arm geklemmt bei sich. Damit putze Nicko sich den Hintern. Den ganzen Tag verbringe er ja im Freien und suche sich für seine Notdurft mit Vorliebe einen Bach. Mehrmals schon habe er ihn mit dem Feldstecher bei dieser Verrichtung über einem Wasserlauf beobachtet. »Verstreute Defäkation, als wären wir in Afrika!« Aber Dr. Elias Königsberg kommentierte nur den historischen Bezug: »Siehe da, der Schwamm – ein Xylospongium!«, hatte er ausgerufen. »So etwas haben schon die alten Römer benutzt.« Wie sich diese Psychologen aus allem heraushalten, hatte er damals gedacht. Was er diesem Eiertänzer daher gar nicht erst weitergab, war, wie genau sein Feldstecher das fokussierte Bild heranziehen konnte, sodass er zusehen musste, wie es dem Unhold, bei seiner viehischen Ernährungsweise, aus dem Hintern spritzte, und noch weniger verriet er, wie er mit der rechten Hand, bei ausgestrecktem Zeigefinger und aufgerichtetem Daumen, auf den Scheißer zielte, abdrückte, mehrmals, peng, peng, peng …
    »Bin ich schon taub?«, fragte Siegmund sich ärgerlich, schwer atmend, nach einer kurzen Aufstiegsperiode einhaltend, und, auf seinen Stock gestützt, zurückblickend. Lumpi bellte in diese Richtung. Und dann zeichneten sich in einer Staubwolke die Konturen eines heraufkommenden Fahrzeugs ab. Der Wagen, ein schwarzer Mercedes, hielt neben ihm, die Staubwolke zog seitlich ab ins Gebüsch. Der Fahrer ließ das Fenster herunter. Aus dem Wageninneren quoll laute, stampfende Musik, die allerdings sogleich gedrosselt wurde.
    Der Mann im Wagenfenster begrüßte ihn, nannte seinen vollen Namen und sagte in einem aufdringlichen und zugleich gefährlichen Vertrautseinston: »Guten Morgen, Siegmund Rohr! Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes neues Jahr.«
    »Ich kenne Sie bedauerlicherweise nicht, mein Herr«, erwiderte Rohr und zischte beiseite: »Still, Lumpi!«
    Martin Holberg stieg aus und stellte sich vor. Man habe sich schon öfter gesehen, wenn Rohr sich erinnere, vor allem bei den Geburtstagsfesten von Clementine; er sei ihr Sohn, Martin. Man habe wohl denselben Weg: Ob Herr Rohr nicht einsteigen wolle, es gehe hier doch noch ein gutes Stück steil bergauf. Und auf Rohrs Bedenken hin: Der Dackel sei kein Problem, das Wageninnere nach viertägiger Reise ohnehin verschmutzt und seine Tochter eine nahezu fanatische Tierliebhaberin. »Wale, Hunde, Gorillas – was Sie nur wollen, Herr

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