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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Rohr.«
    Siegmund konnte sich nicht an diese zweifellos vornehm aussehende, wenn auch ungekämmte und nachlässig gekleidete Person erinnern, die da so anmaßend vertraut auf ihn einredete, wohl aber an das, was er von Clementine über ihren Sohn gehört hatte. Dabei war immer von »meinem Großen« und von »Dr. Martin Holberg« die Rede gewesen. Im Wagendunkel nahm Rohr das Gesicht und die winkende Hand einer jungen Frau wahr. Sein Misstrauen schwand. Das Ganze sah nicht nach einem Kidnappingversuch des Mossad aus. Als er sich auf dem Rücksitz niedergelassen hatte, den Dackel an seiner Seite, stellte Martin vor: »Katha, meine Tochter!« Im Wageninneren wummerte wieder dieser ekelhafte Lärm, irgendetwas wie Jazz oder Rock, begleitet und vorangetrieben vom maschinenhaften Gestampfe einer Band. Clementines Enkelin drehte sich nach hinten und reichte ihm die Hand. »Meine Freundin Clementine hat eine schöne Enkelin, Kompliment!«, sagte er, so laut er konnte. Die schlanken Finger mit den vielen Ringen verleiteten ihn zur Andeutung eines Handkusses. Die Enkelin lachte. »Hast du das gesehen, Pa, ein Kavalier alter Schule! Und wie dieser Mensch gekleidet ist! Wissen Sie, Herr Roth, es ist, als hätten Sie erraten, dass Sie heute einer Prinzessin begegnen würden – Your Royal Highness, Lady Di!«
    »So? Tatsächlich? Wir sind Lumpi und Siegmund Rohr …Rohr!«
    Das Auto setzte sich in Bewegung. »Wie lange, wie weit sind Sie schon marschiert, Herr Roth, so steil bergan und unter dieser starken Sonne«, fragte sie ihn.
    »Ja, mein gnädiges Fräulein, ich mit meinen einundneunzig Jahren …« Katha stieß durch ihre Zähne einen Pfiff der Anerkennung aus. Siegmund wies nach hinten: Sie könne vielleicht noch den Schornstein seines Chalets erblicken, estilo tirolés, wie man hier sage. Die junge Frau ließ die Fensterscheibe herunter, blickte zurück und rief bewundernd: »Aber ja, ich sehe – da haben Sie ja schon ein Riesenstück zurückgelegt, Sie Methusalem!« Sie ließ das Fenster offen.
    Auch ihr Vater hatte sein Fenster nicht mehr geschlossen. Beide begannen jetzt, im Rhythmus der tobenden Band, auf ihren Sitzen zu wippen. Sie ließen je einen Arm aus dem Fenster hängen und trommelten mit der flachen Hand im Takt gegen ihre Wagentüren. Zugleich sangen sie eine Weile den Text mit, dann drehte sich die junge Frau wieder um.
    »Echt geil diese Musik, finden Sie nicht, Roth? Die alten Abba sind wieder groß in . Sie feiern gerade ihr tolles Comeback in London mit ihrem Mamma Mia! «
    Tochter und Vater nickten heftig und gleichzeitig mit den Köpfen und skandierten eine ganze Weile lauthals den Song: » Gimme! Gimme! Gimme! « Als darauf eine neue, etwas ruhigere Gesangsnummer folgte, wandte sich Dr. Holbergs Tochter wieder dem Fahrgast zu. »Herr Roth, was haben Sie nur für einen lieben Hund. Ich liebe die Hunde!« Ja, das sei sein Dackel Lumpi. Den habe ihm eine gute Polin geschenkt, die in Quemquemtréu eine musterhafte Dackelzucht betreibe: Fräulein Malgorzata Zwierzynski – wie alle Krakauer eine Dackelnärrin. Und selbstverständlich astreine Antikommunistin. Der Dackel sei absolut reinrassig und besitze daher eine hohe Intelligenz. Obendrein sei er telepathisch begabt, er könne Ereignisse im Voraus …
    Fräulein Holberg begann mit biegsamen Händen tänzerisch herumzuwirbeln, wiegte ihren Kopf mit dem wallenden Haar im Takt und sang passend zur gerade laufenden Melodie: »Reinerassig was, is’ mei’ Hund!« Sie lachte und klopfte dem Vater auf die Schulter. »Reinerassig, Pa, hast du das gehört, da nimm dir mal ein Beispiel! Und deshalb ist er intelligent statt verrückt.« Und dann drehte sie ihren Körper wieder Rohr zu. Er hatte inzwischen den Dackel fest an sich gedrückt. »Great, Roth! Und Sie sind ein reinrassiger Arier, nehme ich an – ja, der Ewige Arier, so wie Sie aussehen! Ich dagegen werde niemals telepathische Fähigkeiten entwickeln können, denn ich bin nicht reinrassig, ich bin eine Halbjüdin. Meine Spivak, mütterlicherseits, kamen auch aus Polen; wären schon gern gute Polen geblieben, die Spivak, wenn Ihnen der Name etwas sagt.«
    Er schüttelte den Kopf und bückte sich, um durch die Frontscheibe auf die Straße spähen zu können. Wie weit war es wohl noch bis zur Einfahrt in den Tilo-Hof?
    »Lieben Sie die Mapuche, die reinrassigen?«, hakte Katha jetzt nach. Sie musste die Frage wiederholen, denn er hatte sie wegen der alles übertönenden Musik nicht verstanden. Bei der

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