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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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langsam!« Er musste den Dackel zurückzerren, den es von der Schotterstraße weg sofort seitlich in die Hagebuttenbüsche trieb. »Wir wollen heute keine Hasen aufstöbern, wir müssen zu Clementine. Heute bekommen wir einen schönen Knochen, ein paar knusprige Lammripperln, Lumpi. Und Herrchen wird auch sündigen. Einmal im Jahr … Benimm dich, du Zwerg!«
    Einige Male musste er anhalten, wenn der schnuppernde Dackel ein Hinterbein hob. Beim nächsten Mal dauerte es länger: Unter sichtlicher Anstrengung konnte Lumpi seinen Darm entleeren. Prüfend betrachtete Rohr die Wurst, wendete sie mit dem Spazierstock um und stocherte darin herum. »Brav Lumpi, sehr brav. Wir haben keine Würmer.« In regelmäßigen Abständen verabreichte er dem Hund Pillen gegen das Gewürm. Man müsse die Hunde auf dem Land immer kontrollieren, hatte ihm der geschwätzige Veterinär empfohlen – als ob er das nicht selbst gewusst hätte. Er war auf den Freund von Fritz, Tancredo Marturano, der aus dem neapolitanischen Hinterland stammte, nicht gut zu sprechen. Vor einem Jahr noch hatte dieser südländische Tierquäler auf der Berghof-Terrasse – welch glückliche Fügung, dass er selbst gerade einen seiner letzten Besuche bei Wotan machte! – die Hände zusammengeschlagen, den Kopf geschüttelt und das Ungeheuerlichste empfohlen: den greisen Wotan einzuschläfern. »Nur über meine Leiche!«, hatte Rohr sofort ausgerufen – und damit Fritz, diesen halben Itaker, von einer verbrecherischen Einwilligung abbringen können. »Nein, Lumpi, das würden wir nicht zulassen. Weißt du, auch dem greisen Hund des Odysseus haben sie sein Altenteil nicht verweigert. Da hätte dieser Camorra-Veterinär mich gleich miteinschläfern müssen! Ich hatte ihm doch einmal schon dieselbe Zumutung – im Falle von Wotans Papusch – abschmettern müssen. Ausgerechnet bei meinem … meinem …«
    Er schaute zum Tilo-Hof hinauf und schätzte die noch vor ihm liegende Wegstrecke ab. Die Sonne blendete ihn. Es fiel ihm ein, dass er seinen eleganten Panamahut vergessen hatte, und, viel schlimmer noch, die Blumen für die Jubilarin ebenfalls. Jalil hatte ihm noch gestern diese herrlichen vierundzwanzig roten Rosen gebracht, und er hatte sie über Nacht in einer Vase auf den Küchentisch gestellt. An all dem war der Dackel schuld, der sich ständig in Szene setzte und ihn mit seinen telepathischen Tricks ablenkte. Besser wäre es gewesen, er hätte ihn beim Hinausgehen auf Hut und Blumen aufmerksam gemacht! Lumpi war mit … mit …, dem würdevollen nicht zu vergleichen. Er drehte sich um, schaute hinunter – nein, zweimal diesen Weg, das würde er nicht mehr schaffen angesichts des noch fehlenden Aufstiegs und der zunehmenden Temperatur. Also doch den Blick wieder vorwärts richten, die Sonnenstrahlen ertragen und sich innerlich vorbereiten auf die Entschuldigung bei Clementine.
    Hoch über dem Lagler-Anwesen hatte er vorhin schon unter den Zinnen des Piltriquitrón einen vereinzelten Paragleiter beobachtet. Der Anblick war ihm vertraut; in der Saison schwebten und schaukelten dort oben häufig mehrere von diesen Flugfanatikern stundenlang herum. Und immer, wenn er sie eine Weile beobachtet hatte, überkamen ihn diese lange zurückliegenden Bilder: ’S ist Krieg, er sitzt mit Jost, der heute Lagerausgang hat, in Linz im Kino, es läuft die Wochenschau. Zunächst erfüllt dröhnender Fluglärm den Saal, dann taucht am grauen Morgenhimmel das Geschwader auf, ein Gewimmel von hellen Pünktchen löst sich dort oben ab. Bald erkennen sie geblähte Fallschirme, die rasch herabsinken; man sieht Soldaten an ihnen baumeln, sie springen zu Hunderten mit angesetzter Schusswaffe über Feindesland ab, umflutet von heroischer Musik und einer schneidenden Stimme aus dem Off, die ihnen Kampf und Sieg verheißt. Unvergesslich die Begeisterung, in die sie dieser Filmbericht versetzt hat. Da konnten sich schon einmal ihre Hände streifen. Zugleich aber – das war ihm bis heute unverständlich geblieben – erweckte die Erinnerung an die Kriegsschauplätze jedes Mal die Szene aus einem Friedensidyll, wie es eher ein Heimatfilm hätte auslösen müssen. Er sah sich mit Mutti wandern durch eine Wiese voller Blumen in der herrlichen Hügellandschaft um Mauthausen; einen kleinen Jungen in Lederhosen, das Gras steht hoch um ihn, und er pflückt Löwenzahn und pustet die flaumigen Köpfchen leer; die Flocken und ihr Samenkorn treiben und tanzen in der Sommerluft übers Feld, er

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