Scherbengericht: Roman (German Edition)
Tochterfirma.« Jetzt ruhte er vielleicht schon auf dem Deutschen Friedhof in Buenos Aires, mutmaßte Siegmund, mich hat seine Eulenspiegelei nicht enttäuscht. So war er nun einmal gewesen, ein toller Kerl.
Ach, Papusch! Die Besuche bei Wotan waren vor allem wegen des unwürdigen Auftretens und der Sprechbehinderung des gelähmten Berghofbesitzers anstrengend geworden. Außerdem musste er sich dazu jedes Mal einen Mietwagen bestellen, nachdem er seinen letzten VW aufgegeben hatte. Der Aufwand war ihm schließlich zu teuer geworden. »Wie hat unser lieber Papusch doch geheißen?«, fragte er sich im Spiegel.
Siegmund kehrte wieder ins Wohnzimmer zurück, und sofort begann der Dackel zu jaulen. Sein Herr blieb starr in der Mitte des Raumes stehen und hob die rechte Hand mit dem breiten Goldring und dem ovalen Türkisstein vors Gesicht. Das eingravierte Fantasiewappen fesselte ihn so sehr, als hätte er es nie zuvor gesehen: eine Kanone im Eichenlaubkranz. Auch das eine Idee von Jost, der sich selbst am liebsten mit Hakenkreuzen geschmückt hatte. Der Hund sprang, die Leine nachschleifend, mehrmals auf ihn zu, versuchte, sich am gebügelten Hosenbein aufzurichten, warf sich seitlich zu Boden, kehrte zur Haustür zurück. Die Falte zwischen Siegmunds Brauen vertiefte sich; er hob die Hand und tippte mit dem Zeigefinger an die Nasenwurzel. Darauf verknautschte sich seine membranendünne Stirnhaut bis an den Haaransatz. Er fragte sich: »Clementine?«, nickte befriedigt und ging steifen Schrittes zur Haustür. Dort musste er zuerst nach der Handschlaufe der Hundeleine suchen. Nichts war beschwerlicher, als sich bücken zu müssen. Dann schaltete er die Alarmanlage ein, trat vors Haus, wählte sich einen von den Wanderstöcken und schloss die Tür ab. Lumpi strebte ihm hechelnd und zerrend Richtung Gartentür voraus.
Siegmund Rohrs Chalet stand unterhalb des Lagler-Hofes. Für den Aufstieg würde er, einundneunzigjährig, heute wohl eine gute Dreiviertelstunde benötigen. Sein Haus, im »alpinen Bauernhaus-Stil« errichtet, hatte ein nicht ausgebautes Obergeschoß mit Balkon; es stand leer und sollte nur mehrere Bewohner vortäuschen. Das Bauwerk lag inmitten eines viertausend Quadratmeter großen Grundstücks, einer nackten, sanft abschüssigen Wiese. Die Grasfläche wurde ebenfalls von Kamel Jalil gepflegt. Der kam ein- oder zweimal im Monat mit einem kleinen Traktor und mähte die Fläche wie einen Golfplatz. Jede Ratte, Maus, Kröte oder selbst eine Viper, hätte sie sich dem Haus nähern wollen, wäre sofort in dem kurzgehaltenen Gras entdeckt worden. Und ringsum im Gebüsch und in den Bäumen, dicht am mannshohen Maschendraht der Umzäunung, lauerten kleine Raubvögel. Dieser Rasen war ein Todesstreifen. Die Umzäunung krönte eine mit rasiermesserscharfen Krallen versehene Drahtspirale. Vor Jahren, als bekannt geworden war, dass Siegmund Rohr seinen Zaun nachts unter Strom zu setzen pflegte, hatte ihm die Gemeinde Quemquemtréu auferlegt, dies sofort abzustellen. Die ringsum angebrachten Warnschilder, versehen mit rotem Zickzack-Blitz und kinnlosem Totenkopf, hatte er wieder abmontieren müssen. Daraufhin hatte ihm Fritz den modernen Stacheldraht beschafft und eine so gut wie fabrikneue Walther- PPK ; er hielt sie im Geheimfach seines Schreibtischs einsatzbereit.
Herrchen und Hund erreichten eine schmale, im Gebüsch versteckte Zauntür. Dort band Siegmund den Dackel fest und kehrte zum Haus zurück. Er sperrte auf und vergewisserte sich, dass er die Alarmanlage eingeschaltet hatte. Dann ging er um das Haus herum und rüttelte prüfend an der Küchentür auf der Rückseite. Sie war verschlossen. Hinter allen vergitterten Fenstern waren die Gardinen zugezogen. Als er auf der anderen Seite des Hauses wieder auftauchte, begrüßte ihn kläffend der Hund. Neben der Haustür suchte er sich einen anderen Stock: er wählte den leichteren, dessen Knauf in einem holzgeschnitzten Adlerkopf endete. Nach ein paar Schritten musste er abermals umkehren. Er war sich nicht sicher, ob er beim zweiten Mal die Eingangstür wieder abgesperrt hatte. Er hatte. Jetzt konnte er aufbrechen. An der Gittertür war immer noch ein Schild befestigt, das die Silhouette eines Schäferhundkopfs mit gespitzten Ohren zeigte. Darunter die Warnung vor dem bissigem Hund, vor … vor …! Wie hat doch nur der Papusch vom Wotan geheißen? Diese Löcher im Gedächtnis, wie qualvoll … Dieses Schild würde er niemals entfernen.
»Langsam, Lumpi,
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