Scherbengericht: Roman (German Edition)
gar keine Steinaxt, sondern nur ein Stecken mit einem feuchten Badeschwamm daran; den benutze das Subjekt nach der Erledigung seiner Notdurft zur Reinigung. Ansonsten handele es sich um einen Dorfdeppen, der durch sein unermüdliches Herumirren und Vornüberfallen seit Jahren ortsbekannt sei. Ein ganz und gar minderwertiges Element. Ein unwertes Leben. Der degenerierte Sohn eines versoffenen Slawen. Schon Nietzsche habe gesagt … Aber darauf folgte nichts mehr. Katha indessen zwang ihn geradezu durch Nachfragen, alles noch einmal in die laute Musik hineinzuschreien. Vor allem schien sie das mit dem Stöckchen nicht zu verstehen. Schließlich brachte sie ihn so weit, dass er seine Erklärung mit einer beschämend deutlichen Armbewegung zu seinem Gesäß hin begleiten musste, mehrmals, weil die »Prinzessin« immer wieder insistierte. Wo, an welcher Körperstelle, wie?
»Also ein minderwertiges Element, dieser Nicko? Klasse, Roth, für ihre einundneunzig Jahre sind Sie ja noch ganz gut drauf! Sind Sie etwa der Geliebte meiner Oma?«
Der Dr. Holberg, dieser von Clementine so hochgehaltene Wissenschaftler-Sohn, kam ihm nicht zu Hilfe, der klopfte jetzt einfach mit den Fingern ständig im Takt der Musik auf das Lenkrad und lachte schallend auf. Siegmund bemerkte, dass er ihn im Rückspiegel beobachtete und sicher auch gesehen hatte, wie er eben bei der Frage der Enkelin rot angelaufen war. Hatte man ihm eine Falle gestellt? Begann jetzt ein Verhör, nach der Erniedrigung, sich mehrmals mit wischender Bewegung ans Gesäß fassen zu müssen?
»Ist ja schon gut«, beruhigte sie ihn. »Mich kann nichts erschüttern, ich habe über Alterssexualität promoviert. Das ist ein Abgrund von Perversitäten. Trotzdem, ich liebe alte Menschen. Ich liebe sie voll Mitleid, weil ihre Lebensfarben verblassen, ihr Lebensrhythmus sich unaufhaltsam verlangsamt. Kennen Sie vielleicht das Lied ›Les Vieux‹, von Jacques Brel? Da ist eigentlich alles drin. Die Menschen meinen doch, im Verlauf ihrer Lebenszeit fülle sich ein Gefäß, das ein letzter Tropfen womöglich zum Überfließen bringen könne – als wäre es ein langes, volles, erfülltes Leben gewesen. Aber in Wirklichkeit ist überhaupt nichts voll, es ist versickert, trocknet aus – bis auf den letzten Tropfen. Sie werden einfach schlaff, leer und so. Gott sei Dank gibt es neuerdings Viagra. Haben Sie es schon mal versucht, Roth? Kann man die Blaue hier bekommen? Können Sie aber auch übers Internet ordern. Papa, hast du’s eigentlich versucht? Ich hab dich noch nie danach gefragt.«
Damit hatte sie ihn endlich frei gelassen und sich dem Vater zugewandt. Wie würde der auf ihre freche Frage reagieren? Ihn selbst hatte man ja in letzter Zeit, vor allem in der Senioren-Saison, mehrmals auf die leeren Schachteln dieser Droge im Hotel Tirol aufmerksam gemacht. Er horchte.
»Also erstens mein Kind – dein mutmaßlicher Liebhaber der Oma heißt Rohr, nicht Roth, was ihn tatsächlich stört. Es ist gut möglich, dass er auf Durchblutung und Versteifung keinen Wert mehr legt. Und zweitens – ich bin, was Viagra und dergleichen betrifft, noch keineswegs so weit. Ich war nach Mamas Verlust lange in Quarantäne, Katha. Ich war vom Leid infiziert, wie du. Jetzt sind wir nicht mehr virulent infektiös, wir heilen, wir werden beide immer gesünder. Nur, ich weiß noch nicht, was ich mit meiner verdammten Gesundheit in diesem verdammten neuen Jahrhundert machen werde. Eines weiß ich allerdings heute schon: Euch beide will ich nicht verlieren, dich nicht, und Gabriel nicht!«
Siegmund beobachtete, wie Dr. Holbergs Finger auf dem sommersprossigen Nacken unter der verwilderten Haarpracht seiner halbjüdischen Tochter spielten. Die beiden schienen ihn vergessen zu haben. Reflexartig streichelte er Lumpis glattes Rückenfell.
In geduckter Haltung erspähte er endlich das Tor des Tilo-Hofes. Es stand offen, man brauchte nicht anzuhalten. » I have a dream« , begann eine helle Frauenstimme eben mit dem melodiösen Song des lautstarken Musicals. »Das kenne ich!«, rief er der Enkelin Clementines zu – »dieses Lied singt die wunderbare Vicky Leandros, wenn auch mit einer zarteren Begleitung.«
»Toll, Roth!«, lobte ihn Katha. Na ja, schränkte er ein, er sei eigentlich mehr für Klassik, für Zarah Leander oder Johannes Heesters, neuerdings auch Rudi Carrell. Aber diese Melodie habe ebenfalls etwas klassisch Volksliedhaftes an sich. Vater und Tochter hörten ihm offenbar nicht mehr zu,
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