Scherbengericht: Roman (German Edition)
er zu verstehen: Jost war total untergetaucht und wollte auch vor Fritz seine Vergangenheit verbergen.
Trotzdem traten Jost und Fritz immer zusammen auf, beide trugen trotz der Hitze, die bald nach den Kanarischen Inseln ausbrach, weiterhin ihre Knickerbocker aus genuinem Tweed und trennten sich keinen Augenblick von ihren dicken Aktentaschen. Als ihr Steward konnte er beobachten, dass sie selbst bei Tisch, wo sie mit dem Ersten Offizier und einem dritten Emigranten, einem Reichsdeutschen aus der Familie Borsig, speisten, die Taschen auf dem Boden zwischen ihren Füßen geklemmt hielten. Auch wenn sie im Schatten des Sonnensegels in ihren Liegestühlen ruhten und ihre Blicke über den Horizont schweifen ließen, hatte jeder seine Tasche auf dem Schoß, die verschränkten Hände darüber. Einmal hatte sich Jost die Aktentasche unter den Nacken geschoben und begonnen, den Kopf heftig hin- und herzuwenden. Fritz musste kurz auf seine Kajüte gehen. Die Gelegenheit schien günstig. Siegmund nähert sich dem Freund mit einem gefalteten Plaid.
»Jost …«
»Sigi – lassen Sie das! Das ist meine Nackenmassage.«
»Sigi« hatte diese vertraute Stimme gesagt … und es hatte ganz wie einst geklungen. Er suchte einen verschwörerischen Blickwechsel mit dem vor ihm Liegenden. Doch dessen Augen starrten aufs Wasser.
Da Siegmund die hochgestellten Personen in der Offiziersmesse zu bedienen hatte, bekam er einiges mit. Die Herren erinnerten sich an ihre guten Zeiten, schimpften über das italienische Bier, lobten die italienische Küche und tranken fast nur Weißwein. Mit der Nähe des Äquators nahmen ihre Besuche auf dem Hinterdeck der weiblichen Auswanderer zu. Und sie brachten sogar Frauen auf ihre Kabinen. Da musste er dann Sekt, auf Bestellung, mit blutendem Herzen auch bei Jost, durch die halb geöffnete Kabinentür reichen.
Einmal – daran erinnerte Siegmund sich noch sehr gut, es war schon nahe des Äquators und man war im Begriff, die heimatliche nördliche Halbkugel zu verlassen – für immer – bemerkte er Jost und Fritz spähend über die Reeling gelehnt. Man hatte Delfine gesichtet: In wellenförmig gleichmäßigen Bögen über und unter Wasser begleiteten die erstaunlichen Geschöpfe das Schiff. Dabei scheuchten sie gelegentlich einen Schwarm fliegender Fische auf, der wie ein Flitterteppich über sie hinwegglitzerte.
Um sich vor den senkrecht herabstechenden Sonnenstrahlen zu schützen, hielten die Herren mit beiden Händen die Aktentaschen über ihre Köpfe. Siegmund hatte sich ihnen sehnsüchtig genähert, aber zwei Schritte hinter ihrem Rücken angehalten. Aus der ehrerbietigen Distanz konnte er ein paar Wörter aufschnappen, ohne deswegen als Gesprächspartner gelten zu dürfen. Die beiden machten sich auf die widerspruchsvolle Natur des Schauspiels aufmerksam: Die so gewandt dahinflitzenden Fische seien in Wirklichkeit Säugetiere, die aufschwärmende Vogelschar hingegen echte Fische.
»Genau genommen«, meinte Jost damals, gut hörbar für Siegmund, »ist das nicht eine Art Rassenschande? Wie eben jede Widernatur, auch beim Menschen.«
Ein paar Jahre darauf, als sich Siegmund Rohrs und Fritz Ciriglianos Wege zum dritten Mal kreuzten – sie führten jetzt das neue »Hotel Tirol« in Quemquemtréu –, wollte Siegmund nun doch etwas mehr über das Schicksal von Jost, alias Peter Schlosshauer, erfahren. Aber Fritz zeigte sich nicht sehr mitteilsam. Soviel er von ihm gehört habe, sei Schlosshauer von irgendeinem Sicherheitsorgan des Präsidenten Perón schon in Österreich kontaktiert und als Berater angeworben worden. Kein Wunder, bei seinen Qualifikationen.
»Er hat ja im Reich, trotz seiner jungen Jahre, eine wichtige, aber hoch geheime Rolle gespielt. Er hat es mir nur andeuten können. Aber dann habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Da verriet Siegmund nun doch den Namen, berichtete von der alten Freundschaft in Mauthausen und dem untergeordneten Dienstgrad Josts im Arbeitslager. Nach einem kurzen Nachdenken hatte Fritz aufgelacht und ausgerufen: »Dieser schlaue Angeber! Der hat ja die Peronisten ganz schön hereingelegt und sich bei ihnen aufgespielt.« Auch als sein Arbeitgeber Perón gestürzt wurde, hatten sie nie etwas von ihm erfahren. So prominent wie Adolf Eichmann war er eben nicht. »Der hat sich wahrscheinlich eine knackige ›Hiesige‹ ins Bett und in die Küche geholt«, meinte damals der geschasste Fritz abschätzig, »und arbeitet in der Lagerverwaltung einer deutschen
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