Scherbengericht: Roman (German Edition)
gegenüber über dieses mood management.
»Soll das etwa heißen, dass du in uns allen deine Verrückten siehst, deine Karnevalsnarren, damit du dich wohlfühlst? Eine, oder zwei, bittschön, aber die anderen …«
Ihre Worte konnten sein Zulächeln nicht trüben. Er schien auf das Gespräch der beiden Frauen zu horchen, wiegte wortlos mit dem Kopf bei Sarahs Gesten mit und spielte mit einer Hand in seinem Haarschopf.
Müdigkeit nach den Antipasti, dem Lamm, den Salaten, dem Wein, den Aufregungen und den wolkigen Worten des Medizinmanns hatte sich unter den Karnivoren ausgebreitet. Alle, mit Ausnahme der Krohns, hatten zu viel gegessen und getrunken. Gestern schon, zu Silvester, war es sehr spät geworden; und selbst der zurückgezogene und abstinente Siegmund Rohr hatte ja schon am Abend einsam eine halbe Flasche seines Eierlikörs geleert. Das Aroma sonnenwarmer Lindenblüten legte sich auf die Sinne, und die eintönig durchsummte und brummende Schattenwelt senkte sich als abschirmende Glocke über die Tafelrunde. Clementine, die von ihrem weisen Elias auf ihre vorwurfsvolle Frage keine Antwort bekommen hatte, lehnte mit sichtbarer Hoheit ihren Kopf gegen die Baumrinde, ihr Mund verriet das allen bekannte Schmollen, und für eine Weile beschloss sie, wie sie es gern androhte, einen Punkt zu machen. Es fehlte wenig, und die Alten wären eingenickt, versunken in Vergangenheit, wie auf einer vergilbten Fotografie, verschwimmend im gelangweilten Blick der Jüngeren.
Da traten bescheiden, aber doch etwas Lärm entwickelnd, wieder Mirta und Delia in Aktion. Sie begannen, die Tafel abzuräumen und neues Geschirr für den Nachtisch aufzustellen. Der Gaumenfreuden sei offensichtlich kein Ende, feierte Elias sofort den Aufruhr, ermuntert allein schon vom gedanklichen Vorgenuss. Er verfolgte aufmerksam die Bewegungen von Delias Tochter: Es war einfach herzbewegend, wie unbesorgt das süße Geschöpf sich beim Einsammeln und Aufstellen des Geschirrs über den Tisch beugte und dabei den Blick auf ihre schwingenden Brüste und auffallend großen Nippel freigab.
»Ach, du blühendes Leben …«, vermeinten Gretl, Martin und Gabriel von Elias zu hören: Gretl blickte zu Mirta, Martin schaute ebenfalls mit Wohlgefallen in den Brustausschnitt des Mädchens, Gabriel verdrossen nur aufs Tischtuch. Über den großen Flecken, den der verschüttete Kipflerkartoffelsalat hinterlassen hatte, war ein buntes Mapuchegewebe ausgebreitet worden.
Mohnstrudel, Nussstrudel, Schlagobers und ein Korb voller Kirschen wurden aufgetischt. Aber da fehle ja noch das Wichtigste, kicherte Rotraud verheißungsvoll, bevor sie wieder in die Küche eilte. Ihr Schmerz über das zerschellte Erbstück schien durch Trigos überraschend friedliche Akzeptanz des Rollstuhls überwunden. Von ihrem Weg aus gewahrte sie Quique, der hinter dem Gebüsch herumschlich, einmal sogar seinen ganzen Kopf sehen ließ. Rotraud verzögerte kurz ihren Schritt, aber gleich darauf eilte sie entschlossen weiter. Und als sie bald danach zurückkam, trug sie, feierlich langsam ausschreitend, die Krönung des Jubiläumsbanketts vor sich her: eine ungewöhnlich große Dobostorte. Neun Kerzen flackerten darüber und spiegelten sich in der blanken Karamellglasur.
»Aber Rotraud, welch eine Überraschung!«, freute sich Clementine. »Mein letztes Stück Dobostorte habe ich vor mehr als sechzig Jahren in Wien gegessen. Meine Gute, was hast du dir nur für eine gewaltige Mühe gegeben!«
Alle begrüßten den Auftritt der Zuckerbäckerin. Sarah wollte sich von Clementine, in Kathas Übersetzung, erklären lassen, was das für eine Torte sei, und erfuhr von der klassischen mitteleuropäischen Schöpfung des ungarischen Konditors Dobos vor mehr als hundert Jahren. Nur konnte Sarah auf Clementines Frage, ob man die auch in Jerusalem oder Tel Aviv bekommen könne, keine sichere Auskunft geben: Bei so vielen Emigranten gerade aus dieser Gegend wäre das wohl zu erwarten, aber sie sehe sich nie in den dortigen Konditoreien um, und bei ihrer Familie habe es höchstens Honigbrot gegeben. Die Runde gratulierte im Chor und das Geburtstagskind musste die Lichter ausblasen. Als sein Atem beim zweiten Pusten nur für sechs Kerzen reichte, wollte ihm Katha helfen, bekam aber einen abwehrenden Klaps. Die Großmutter würde es doch wohl noch allein schaffen! Der Jubilarin standen Tränen in den Augen, alle hatten sich erhoben, traten zu ihr, küssten das zitternde Gesicht und umarmten die kleinen,
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