Scherbengericht: Roman (German Edition)
Riesenwal. Clementine aber schaute bewegungslos und bis zur Unansprechbarkeit konzentriert auf Sigi, der ihr nun wieder gegenüber saß. Er war, wie vom Kleiderhaken gerutscht, in sich zusammengesunken, wurde zur abgehalfterten Marionette, die ohne Schnüre und Puppenmeister kaum noch mit den letzten Radieschenscheiben auf dem Teller fertig wird.
»Es ist höchste Zeit, dass wir das Thema wechseln«, meinte Elias, seinen Körper aufrichtend, »sonst hält unser Neffe hier noch ein Seminar über Nanotechnik ab und eröffnet eine patagonische Praxis. Ist’s nicht so, Gretli, Benny? Und du, Martin, wie lange gedenkst du bei uns zu bleiben?«
»Katha und ich haben vor, uns auf lange Zeit hier einzurichten«, erwiderte Martin. »Ich werde zwischendurch noch einige Male nach Buenos Aires und New York müssen. Aber dann bleiben wir hier … Es gibt in der Sache freilich noch manches zu klären. Wir reden darüber.«
Die Worte Martins hatten Clementine sofort von Sigi abgelenkt. »Vergiss dabei nur ja nicht deine beruflichen Verpflichtungen, mein Großer!«, warnte sie. »Für deine Familie hast du dich wahrlich schon lange genug und mehr als nötig aufgeopfert.«
Es war deutlich zu spüren, dass Martin zu diesem Thema nichts weiter sagen wollte, schon gar nicht vor seinem Sohn, der ihm vorhin so grob und deutlich seine Abneigung bezeugt hatte und ihn auch jetzt, während der Erörterung seiner Zukunftspläne, kaum mit einem Seitenblick streifte. Also lenkte er selbst vom Thema ab und wandte sich dem Psychotherapeuten zu: »Unser guter Regiomontano, bring doch einmal dein Talent zum mood management wieder voll zur Geltung!«
»Martin, du übertreibst. Ich muss gestehen, dass mir das Einrichten eines vermeintlich vernünftigen und vernunftsuchenden Umgangs zwischen den Menschen immer schwerer fällt. Auf welchem anderen Weg aber kann ich die Unvernunft bekämpfen, wenn sie sich ausbreitet? Oder sollte man’s erst gar nicht versuchen?« Mit Kicher-Kaskaden zwischen seinen Worten signalisierte Dr. Königsberg, dass er es auf eine heitere Rede angelegt hatte. Er wandte sich jetzt an den ganzen Tisch: »Ihr müsst wissen, dass der Analytiker ohne seine Klienten selbst verrückt wird. Wenn sich aber einer seiner Besucher, von ihm als krank diagnostiziert, dazu bekennt und sich in diese Rolle schickt, wird er dem Analytiker zum Retter. Beide werden süchtig auf ihre Begegnungen, bedürfen der ständigen Bestätigung ihrer Rolle durch den anderen. Daraus entsteht langsam so etwas wie Erfüllung für beide, eine Sättigung und Saturiertheit in ihrem Umgang, wobei sich der Sinn von Gegensätzen wie ›irr‹ oder ›vernünftig‹ mehr und mehr verwischt. Zunehmend beginnt sich eine gewisse Wurstigkeit, ja eine Grauzone zwischen diesen extremen Zuständen auszubreiten, und da können die beiden sich dann, ja da können wir alle uns laxer und viel freier herumtummeln. Ein bisserl verrückt, ein bisserl normal – na wenn schon!« Er schloss mit einem leisen Lachen, das sich eher in den Erschütterungen seiner Schultern als stimmlich manifestierte. Gretl knetete sanft seinen Handrücken.
Aus Clementines Luchsblick entlassen, stimmte Siegmund Rohr auf seine Art den ambivalenten Ausführungen Dr. Königsbergs zu: »Zwischen Psychiater und Patient, ein Verhältnis genau wie zwischen uns beiden – nicht wahr, Lumpi?« Bei seinen Worten warf Gretl einen Blick unter den Tisch. Sie sah den Dackel mit den schlappen Ohren zucken, als sein Name erklang. Die Vorderpfoten lagen auf Herrchens aufgeschnittenem Tennisschuh, neben der großen Zehe, die in ihrem staubigen Verband herausragte. Seitlich geneigten Kopfes musterte Lumpi erwartungsvoll das Frauchen, das ihm vorhin eine so große Portion hinuntergeworfen hatte.
Von der Oma zunächst ablassend, klammerte sich Katha an die letzten Sätze von »Onkel Elias«. In einer Art Singsang wiederholte sie mehrmals: »Ein bisserl verrückt, ein bisserl normal« und schwenkte dabei den Kopf im Rhythmus nach links und rechts. Erst als Sarah sie bat, ihr des Onkels Worte zu übersetzen, hörte sie damit auf. Aber sie konnte der Besucherin nur den letzten Satz vermitteln: Alle sollten sich unbelastet, ohne Überschätzung der Kontraste und Gegensätze, im Leben einfach durchwursteln: a little bit crazy – a little bit normal. Sarah übertrug das für sich in eine walzerhaft schlenkernde Bewegung aus dem Handgelenk und lächelte nachsichtig.
Nur Clementine ärgerte sich halblaut dem alten Freund
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