Scherbengericht: Roman (German Edition)
harten Schultern. Katha schien sie gar nicht loslassen zu wollen, sodass die Greisin sie unmutig abschütteln musste. Dann begann Rotraud die Torte anzuschneiden, wobei die glasartig feine Karamelloberfläche unter leisem Knirschen von Sprüngen durchzogen wurde. Alle hatten wieder ihre Plätze eingenommen und verfolgten aufmerksam, wie Rotraud die Torte zerteilte, wachten über die Gleichmäßigkeit der Portionen und erwarteten ihre eigene, wie plötzlich brav gewordene Kinder auf einer Geburtstagsjause.
»Das mit der Dobostorte ist aber keineswegs in Wien gewesen, Clementine!«, durchbrach Gretl dieses Idyll, und alle blickten auf. »Ich kann’s dir ganz genau sagen, wann du die letzte Schnitte genossen hast. Es war bei einer Jause im Sommer 1937, in Deutschkreutz. Wir sind alle, auch dein guter Alberto, unter der wohnlichen Linde meines Elternhauses gesessen. Weißt du’s noch, Eli?« Und mit jäher Heftigkeit an Benny gewandt: »Auch dein baldiger Vater, Moritz Krohn, und meine Schwester Ilse waren dabei. Drei Jahre später haben die Nazis deinen Vater dann umgebracht … in Mauthausen.« Sie hatte sichtlich all ihren Mut zusammengenommen, um das laut und deutlich zu bezeugen, und dabei die Fingernägel ihrer Linken in die Handfläche ihres Mannes gebohrt. Sofort funkelten Clementines Augen, plötzlich wieder jung und wasserhell, aus zwei Schlitzen wie Schießscharten auf Sigi zu; der Herr des Dackels verharrte unter diesem Blitzlicht ebenso gebannt wie stumm. Auch alle anderen blieben still, nachsinnend wie in einer erbetenen Gedenk- und Schweigeminute, während sich die ersten, bereits eingelöffelten Süßspeisebissen langsam in ihren Mündern auflösten.
»Grillagecreme!«, stöhnte Elias und machte so der Stille ein unerwartetes Ende. Er hatte eben den ersten Bissen der sechsschichtigen Torte auf seiner Zunge zergehen lassen. »Das ist ja eine raffinierte Variante, Rotraud, die stammt direkt aus dem Kamasutra für die vierte Altersstufe, das ich noch nicht geschrieben habe.« Er zerbiss Glasurscherben, suchte mit der Zungenspitze in der Cremefüllung nach Splittern von karamellisierten Haselnüssen und Mandeln, betippte das sanfte Biskuit, beschmeckte lustvoll die inzwischen warme Mischung in seiner Mundhöhle und schluckte schließlich unter letzten Gaumenreizen die ganze Melange hinunter. Rotraud bekam jetzt auch viel Lob von den anderen. Die Hausmädchen brachten den Kaffee.
Gretl war enttäuscht – sie hatte alle ihre Kräfte für ein herausforderndes Wort aufgebracht, ein dräuendes Gewitter war aufgezogen, hatte sich aber vor dem erlösenden Niederschlag wieder entfernt. Entmutigt musterte sie das Gesicht ihres Mannes – ein notorischer »Abwiegler«, ging ihr durch den Kopf. In tiefen Falten hing ihm die braune Haut schlaffer als sonst von den Wangen; dieses Gastmahl währte schon zu lange, er war sicher seinem Nachmittagstief nahe, ja vielleicht schon mitten darin. Nein, noch nicht? Eli meldete schon wieder einen Festbeitrag an. Als er sich erhob, musste er mit übertriebener Sorge den hinabgesunkenen Bund seiner Clownshose hochziehen und umständlich unter das Bengalenhemd schieben. Damit stimmte er seine Zuhörer auf vermeintlich Heiteres ein.
»Meine liebe Clementine, geliebte Gretli, Rotraud, Treugott, ihr alle in diesem liebenswerten Kreis! Gestern Abend habe ich’s ja nicht lassen können und reden müssen; das will ich euch nicht gleich wieder zumuten. Aber da sind mir nun doch die neunzig Jahre unserer Clementine, die wir in diesem bukolischen Rahmen feiern, eine allzu starke Versuchung – ich kann und will ihr nicht widerstehen. Außerdem dürfte mir angesichts unseres Desserts jetzt keiner weglaufen. Drei Generationen der Familie unseres Geburtstagskinds sitzen hier vereint am Tisch, die drei Generationen Holberg/Kohlgruber und mit ihnen wir, ihre Lebensfreunde. Zusammen bilden wir eine große Familie, deren gemeinsames Zuhause der Tilo-Hof ist. Dazu heiße ich heute auch herzlich Sarah und Benny willkommen, die jetzt zu uns gehören. Bei allen Unterschieden des Alters, der Berufe und Interessen verbindet uns, gewissermaßen im Verborgensten, eines: die Herkunft aus einer mitteleuropäischen Heimat und die Ansiedlung in einem neuen Zuhause. Unser Ostrazismus, unser Scherbengericht, hatte verschiedene Ursachen, aber wir haben einen gastfreundlichen Boden gefunden. Selbst du, Benny, obwohl du schon im lebensgefährlich gewordenen Deutschkreutz im Mutterleib gestrampelt hast,
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