Scherbengericht: Roman (German Edition)
konntest auf rettendem Boden, in Palästina, zur Welt kommen. Und so feiern wir denn eine gemeinsame säkulare Messe, gehören ökumenisch zwei Konfessionen an und befolgen zwei Riten: die Konfession des neuheimatlichen Patagonien, mit Treugotts Opferlamm – und die des altheimatlichen Mitteleuropa, mit Rotrauds kakanischen Backkünsten, diesmal verkörpert von der Dobostorte: dieser köstlichen Schöpfung, die von Fürth bis Deutschkreutz, von Neutitschein bis Bozen, von Wien bis Lemberg ein Begriff für süßesten Hochgenuss ist und bleibt. Liebe Rotraud, unsere Venus von Willendorf, lieber Herrgottschnitzer Treugott – Martin, ich stehe in deiner Schuld für diese sinnige Metapher! –, unendlichen Dank für euer Geschenk, für den friedensreichen, lukullischen Festtag unter eurem heiligen Baum. Und dir, unserer Jubilarin, noch ein weises Leben!«
»Da wüsst ich mir schon was Besseres«, warf Clementine mit anzüglichem Augenzwinkern ein. Delia und Mirta schenkten Spätlese aus, eisgekühlt. Elias senkte sein Glas unter die Tischkante und Mirta neigte sich willig hinüber, in das Blickfeld der beiden Herren. Das Geburtstagskind stimmte mit weinerlich dünnem Sopran die Königsberg’sche Lindenhymne an:
»Die Linde zahlt das Jahr aus,
in Scheinen rund und gülden …«
Sogleich unterstützte sie der vom Alter nicht merklich geschwächte und von der Spätlese und Mirtas Blöße eher noch beschwingte Bassbariton des Autors. Auch alle anderen trugen alsbald ihre Stimmen bei – selbst Treugott, mit rauer Kehle, in einer Art Rap. Während sich der Chor in der Reprise zusammenfand, wurden Rotrauds Blicke wieder einmal von Quique eingefangen: Wohl vom Gesang angezogen und ermutigt, war er neben einem Strauch aufgetaucht und starrte ihr so direkt ins Gesicht, dass sie aus der Entfernung sogar sein Schielen wahrzunehmen glaubte. Sie musste befürchten, dass ihn Trigo entdeckte, ja vielleicht schon entdeckt hatte, denn gleich nach der letzten Strophe, als er seine Tortenportion verzehrt und hastig noch zwei Stamperln gebrannter Trockenbeeren hinuntergekippt hatte, wandte Treugott mit kräftigem Ruck seinen Rollstuhl vom Tisch ab. »Ich werde mit meinem neuen Fortbewegungsmittel ein bisschen auf dem Hofplatz üben«, verkündete er.
Rotraud war misstrauisch und besorgt. »Pass mir nur auf, Trigo. Ruf mich, falls du Hilfe brauchst. Werde nicht zu übermütig! Dass du mir ja nicht umkippst auf dem harten Boden dort, nach dem vielen Wein und Schnaps!«
»Bravo, Treugott, nur Mut, Übung macht den Meister!«, trug Clementine noch zur Motivation bei.
Der Hausherr nickte eifrig, gehorsam, und legte darauf, mit einem weiteren, kraftvollen Schub und einer leichten Körperneigung nach rechts, eine elegante Kurve hin. Alle schauten ihm dabei zu und bewunderten ihn, wie er sich mit geradezu athletischen Stößen über die Wiese entfernte. Bei den Lavendelbüschen hielt er an und drehte sich wieder der Festrunde unter der Linde zu. Aufmerksam und eindringlich musterte er die zehn Gesichter, die aus dem Schatten zu ihm herübersahen, hell, nur das des Schamanen dunkel, aber weiß gekrönt vom dichten Haar. Treugott widmete jedem ein paar Sekunden, aber von Rotraud konnte er nur schwer Abschied nehmen. Allen erschien sein Innehalten eine Ewigkeit zu dauern. Aber es bannte sie auch zu erleben, wie Treugott, sein neues Fortbewegungsmittel gleichsam fest in den Armen, von den Lavendelbüschen her, auf sie so zurückblickte, als wäre die vorausliegende Fahrt bis zu dem Vorplatz ein langes und gefährliches Vorhaben. Und seine folgenden Worte ließen dieses Innehalten vor dem Aufbruch noch fragwürdiger erscheinen. Denn der Comandante rief ihnen zu:
»Wir besitzen ein Feuer, das stärker ist als das unserer Waffen: das Feuer unserer Begeisterung. Der Frauenleib ist die Werkstatt der Natur, in welcher der Mensch erschaffen wird. Man soll die Kühe im frühestmöglichen Alter decken lassen!« Dann reckte er die rechte Faust empor: »Ernst machen – umbringen. Patria o Muerte. Venceremos!« Rief’s und verschwand, vorgebeugt und heftig in die Antriebsräder greifend, auf dem Weg zwischen Wohn- und Gästehaus.
»Mach mir um Gottes willen keine Dummheiten!«, schrillte ihm Clementine noch nach.
»Wie gut«, beeilte sich Rotraud die Stimmung am Tisch zu lockern, »Trigo fühlt sich sichtlich wohl in seinem Stuhl.«
»Du hast ihm gewissermaßen das Leben gerettet«, behauptete Clementine feierlich. Dann warf sie einen
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