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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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und vom Wein, oder im Nachsommer, wenn Apfelmost und satter Rosenduft hinzukamen, versuchten die Alten, Königsbergs Zeilen mit Schuberts Musik in Einklang zu bringen. Einmal saß ein Ehepaar aus Brügge in der Runde, die pausbäckigen Gesichter in Rubens’ Rosa erglühend, und besang die Linde als ihren »Tilleul«. Sie begannen mit
    Die Linde zahlt das Jahr aus
    in Scheinen rund und gülden …,
    und endeten mit
    … so fällt das Geld im Lindenrund
    und fault auf feuchtem Wiesengrund.
    »Tilleulrund« kam es im Duett von den Wallonen. Und Rotraud hatte sich hemmungslos lachend in der Taille gebeugt und »Tijöllund« gejodelt. Diese Erinnerung nötigte ihm wenigstens noch ein Lächeln ab.
    Nach dem fünfzigsten Lebensjahr verschlimmerten sich Treugotts Beschwerden. Die Ärzte sprachen von einer unumgänglichen Hüftknochenoperation, von einem Implantat, empfahlen neue Hüftgelenke (Kopf und Pfanne). Dazu hätte er nach Buenos Aires fahren müssen, und ein längerer Aufenthalt dort wäre wohl nötig gewesen. Dr. Königsberg hatte bereits mit einem renommierten Chirurgen über den Eingriff gesprochen. Treugott aber dachte nicht daran. Er konnte Rotraud nicht allein lassen, nicht mit ihrem Sohn Quique, mit dieser wahren, tatsächlichen Missgeburt!
    Erst acht Jahre nach der zweiten Tochter war der Nachzügler auf die Welt gekommen, ein Spätling wie einst Treugott selbst, und ward Heinrich oder Enrique – kurz »Quique« – genannt. Seine Beine waren gottlob normal, aber er hatte einen ungewöhnlich großen Kopf. »Jessas, dös isch jo a Mostschädel«, hatte Treugott die greise, bettlägerige Lina-Mutter in ihrem Zimmer ausrufen hören, als Rotraud ihr den Neugeborenen zeigte. Quique brüllte darauf auch Tag und Nacht mit so unglaublicher Kraft, dass Treugott seine stillende Gattin bat, den Schreihals nicht so ausgiebig zu füttern. »Wenn du zu viel davon hast, kannst du mich ja mitzuzeln lassen«, bot er an. Manchmal nannten sie Quique cabezón, den »Großkopf«. Delia, die Magd, die damals schon bei ihnen gearbeitet hatte, behauptete, das unnatürlich heftige Saugen des cabezón sei an dem chronischen Milchgesicker aus Rotrauds Brüsten schuld. »Der cabezón hat dein Gewebe gewaltsam überreizt. Es kommt nicht mehr zur Ruhe. Ich hab das einmal bei einer Milchziege erlebt, der man einen Rottweilerwelpen angesetzt hat.« In anderer Hinsicht aber entpuppte der Großkopf sich bald als Wunderkind.
    Ja, ein großes Wort, doch es ergab sich aus seinen besonderen Anlagen. Quique (auszusprechen: Kike) zeigte eine intensive Beobachtungs- und Assoziationsgabe: Ein Detail brachte ihn sogleich aufs nächste und übernächste und so fort. Only connect– die Kette fand kein Ende. Quique überraschte seine Umgebung immer aufs Neue, wie viel er, wenn er über einen Gegenstand oder ein Geschehen ausgefragt wurde, registriert hatte. Da konnte manch anderer sich geradezu blind vorkommen. Außerdem stellte er intuitiv und augenblicklich technisch-physikalische Zusammenhänge her – als hätte er eine Leuchtspur vor Augen, anderen unsichtbar, die blitzartig alle kausalen Zusammenhänge in einem Sachverhalt hervorhob, wie auf den Schautafeln moderner technologischer Museen. Und nicht zuletzt: die Sensibilität seiner auffällig kleinen und zartfingrigen Hände; er hätte Mohnkörner sortieren können. Doch eine rätselhafte Wahlverwandtschaft dieser abnorm entwickelten Begabungen führte auch zu seiner stets lauernden Lust, Pein zuzufügen und deren Wirkung zu beobachten. Es war stets instrumental herbeigeführter Schmerz – durch Werkzeuge, die schon Klein-Quique entweder zu finden wusste oder selbst erfand und zusammenbaute.
    Kein Lebewesen war sicher vor ihm, sobald die Eltern ihn nur kurze Zeit aus den Augen ließen. Treugott hatte mehrmals versucht, solange er sich noch entsprechend bewegen konnte, den Sohn mittels einer Tracht Prügel eines Besseren zu belehren, etwa wenn er ihn beim Ausreißen von Bienenflügeln überraschte. Aber es hatte nichts geholfen – vielleicht auch deshalb nicht, weil es so schien, als hätte die stets lachende Mutter trotz ihres missratenen Sohnes ihren Frohmut nicht verloren. Andererseits stand dem guten Schüler Quique für eine Weiterbildung nichts im Weg, und die besorgten Eltern dachten, dass die Elektromechanik seinen Begabungen wohl am nächsten liege. Sie würde ihn ausfüllend beschäftigen und von seinen schmerzempfindenden Opfern ablenken. Quique schloss Ausbildung und Lehre ab,

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