Scherbengericht: Roman (German Edition)
schon mit sechzehn arbeitete er und verdiente sein Geld – einmal bei einem Installateur, dann wieder in einer Reparaturwerkstatt –, doch immer wurde er nach kurzer Zeit entlassen. Trotzdem, angesichts des Menschenzustroms in die Region, vor allem während der »Saison«, war sein Beruf gefragt und man rief ihn oft von da und dort, er war ständig auf seinem Moped unterwegs, wohnte aber weiterhin auf der Farm der Eltern. Das war wohl seine Art, auch sie zu quälen. Denn zu Hause konnte es geschehen, dass er sich viele Stunden lang in der Werkstatt einschloss, und auf einmal passierte es: Herzzerreißend schrie eine Kreatur. Einige Male noch hatte Treugott versucht, selbst an seine Krücken gefesselt, den weißblonden Großkopf zu erwischen – vergeblich. Dann konnte er ihn nur noch verwünschen, keuchend irgendwo angelehnt oder ächzend auf einen Stuhl gesunken. Rotraud und er hatten erwogen, mit Dr. Königsberg über Quique zu sprechen. Dieser hatte von sich aus niemals etwas angedeutet, obwohl er doch den Unhold jeden Sommer zu Gesicht bekam. Aber eben deshalb auch hatten sie entschieden, den Psychiater nicht zu behelligen. Er kam alljährlich auf die Chacra El Tilo, um abzuschalten, auszuruhen, fern von seiner anstrengenden Arbeit in der Hauptstadt. Wenn Quique ein Fall für ihn würde, hätte Königsberg ihn ständig vor sich, und mit dem Abschalten wär’s dann vorbei. Sie befürchteten nur, dass der Hausteufel etwas anstellen könnte, das sämtliche Sommergäste sehen und erleben und miterleiden müssten. Denn dann wäre das Idyll samt seinem Qualitätssiegel, dem Umriss des Lindenbaums, zerstört: Entsetzen und Abscheu würden die Besucher in Zukunft von Treugotts Hof fernhalten. Ernst machen, umbringen … Treugott nahm die innere Einflüsterung wie eine rote Neon-Leuchtschrift wahr. So einen Erben, niemals! Er hatte sich schon mehrmals geschworen, seinen ganzen Besitz demnächst aufzugeben, zu verscherbeln. Dann waberten Zünglein vor seinen Augen, als stünde der Tilo-Hof bereits in Flammen. Andererseits verdankten sie dem Technologiebegabten – als erste und bisher einzige Farm in der Umgebung – das Satellitenfernsehen und die Internetverbindung.
Treugott Lagler blickte sich um im zögernd anbrechenden Tageslicht. Das Felsmassiv des »Piltri«, wie sie ihn in der Umgebung verkürzt zu nennen pflegten, war grau aus der Dunkelheit hervorgetreten, und die Zacken und Zinnen zeichneten schon ihre Konturen in den helleren Himmel. Zugleich merkte er, dass es kälter geworden war, schneidender als die gewöhnliche frühsommerliche Morgenkälte. Sein Hof, sein Anwesen – keine Spur von Freude mehr, keine Zukunft. Er schnüffelte heftig, als ob er weinen wollte, in das Lammfell hinein. Im vermeintlichen Vatergeruch vertiefte sich sein Schmerz.
Noch umgaben ihn die fünfzehn Hektar, auf denen, Jahr für Jahr rotierend, in drei Parzellen zu je fünf Hektar, Kartoffeln und Weizen und Mais angebaut wurden, um zwischendurch, jeweils auf ein Jahr, als Weideland für die Schafe zu dienen. Besonders stolz war Treugott auf seine Kipfler gewesen, eine bisher und weiterhin im Land unbekannte Kartoffelsorte, deren Saatgut er aus Österreich eingeführt hatte; sie eignet sich wegen ihrer länglichen Form und Festigkeit besonders gut für den Kartoffelsalat. Leider wusste das der einheimische Markt nicht zu schätzen, die »Hiesigen« aßen keinen Kartoffelsalat, Leute wie die Laglers hingegen fast täglich. Und auf weiteren acht Hektar aus Mulden und Hügeln wuchsen Klee, Gerste oder Hafer; dazwischen leuchtete roter Mohn, den keiner gesät hatte. Zu den Felshängen hinauf hatte der Vater noch etwas vom einheimischen Wald, als lichtes Gehölz, stehen lassen; dort hatte Treugott später mit Fichten nachgeforstet. Ein paar Jahre darauf beschäftigte er bereits in einem kleinen Sägewerk – bald kam eine Tischlerwerkstatt hinzu – den Winter über drei Arbeiter; ständig konnte etwas Holz geschnitten und verarbeitet werden. Er lieferte Brenn- und Bauholz und dünne Pappelbretter für Obstkisten. An der Grenze zwischen Wald, Ackerfeldern und Wiesen standen noch aus Vaters Zeiten dreißig Bienenstöcke; Treugott hatte sie schon als kleiner Bub zu betreuen gelernt. An einem Abhang in der Nähe des Hauses – kaum größer als ein Hektar und leicht zu bewässern – hatten die Eltern verschiedene Beerenkulturen angelegt. Ursprünglich Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren und Ribisel; später kamen unter Rotrauds Hand noch
Weitere Kostenlose Bücher