Scherbengericht: Roman (German Edition)
nach schwarzem Tabak, den die Tagelöhner rauchten. Ein Leben lang gelang es ihren schwieligen Fingern nicht, andere als diese krummen, dünnen Stängel zu drehen, die sie immer, feucht vom Zukleben und feucht vom Speichel, im Mundwinkel an ihren Lippen haftend und langsam verglimmend, inbrünstig und unbewusst ansaugten. Für den patrón verbreiteten sie eine beruhigende Duftspur, denn überall, selbst wenn er sie nicht sehen oder hören konnte, wusste er dann seine Leute bei ihrer Arbeit oder zumindest anwesend – im Obstgarten, im Wald, in der Scheune, auf dem Feld, hinter einem Hügel oder im Gebüsch: Der Tabakgeruch der Arbeiter beruhigte ihn mehr als ihre Leistung. Aus wie viel schwarzem Tabakrauch dieser ganze Bauernhof sich doch entwickelt hatte, aber auch aus wie viel Gekicher – denn, anders als die Männer, verrieten die Arbeiterinnen ihren Standort durch Scherze und Geplauder. Auch das wusste er jetzt wieder und hatte zugleich eine bedrohliche Vorstellung: Der Lindenbaum des Tilo-Hofes wird mit dem Lagler-Geschlecht verdorren; schon in der dritten Generation wird alles in Schmerz und Rauch und Gelächter aufgehen.
Er duckte den Kopf in das nach dem Vater schmeckende Lammfell seiner Jacke und massierte sein breites bartstoppeliges Kinn: »Genossen Arbeiter, Genossen Bauern, Genossen Studenten«, begann er mit gepresstem Kehlkopf, mit künstlich hoher, manchmal das Falsett streifender Stimme die lang gezogenen Vokale und überdeutlichen Konsonanten in sich hineinzureden, ganz in der Sprechweise des Comandante en Jefe im fernen Havanna. »Die Arbeit, die endlose Stunden und ungeheure Energie – eigentlich animalische Energie – in Anspruch nimmt, diese alte Arbeit, die den Menschen erst zum Menschen gemacht hat und ihn im gleichen Maße, in dem seine Anstrengungen immer intelligenter wurden, über seinen ursprünglichen Zustand hinaushob, diese Arbeit wird, sobald sie einmal ganz von der Intelligenz bestimmt ist, als brutale, animalische Tätigkeit in unserer Gesellschaft auf immer verschwinden. Wir müssen ernst machen und den Kapitalismus umbringen.«
Weiter seine Castro-Variationen vor sich hin brummelnd, humpelte Treugott langsam dem Wohnhaus zu. Es war höchste Zeit, das Kurzwellenprogramm einzuschalten. Der Sieg der Revolution jährte sich zum einundvierzigsten Mal. Vom Kuhstall her kamen die beiden Hausgehilfinnen Delia und Mirta, Mutter und Tochter, die in der ausgebauten Mansarde wohnten. Jede trug zwei Eimer voll Milch, hell schimmerten diese schwankenden Spiegel im fahlen Morgenlicht. Vor einigen Jahren hatte Rotraud das Melken aufgegeben. Treugott hielt sich nur noch drei Holstein-Rinder, Schafe und Federvieh. Keine Pferde, keine Schweine mehr. Er selbst kam nicht mehr in den Sattel, Rotraud machte die Pferde durch ihr Gekicher und Getänzel nur nervös, und vor Quique wären die Ferkel nicht sicher gewesen. Zuletzt hatte Treugott ja auch den Kaninchenstall leer stehen lassen. Die sanften Tiere übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Experimentierfreude des Großkopferten aus.
Treugott gab den Melkerinnen den Vortritt und blickte noch einmal zu den Felszacken des Piltriquitrón hinauf. Jetzt entdeckte er, warum dieses Morgengrauen sich so kalt und lange hinzog: Wolken verhüllten bereits die Spitzen, die Temperatur war weiter gefallen, ja es sah sogar nach Schneefall aus. Schnee jetzt noch, im Frühsommer? Er erinnerte sich, wie seine Mutter vor Schneefall zu Unzeiten immer gewarnt hatte: »Kinder, da stirbt bald einer.«
3
KATHA
Das Morgenlicht drang in Streifen durch die Spalten der Jalousien und kreuzte das Gesicht des Schlafenden. Katha beugte sich darüber. Der Vater lag auf dem Rücken und die Decke war auf den Boden gerutscht. Er trug nur seine weißen Boxershorts, unter denen sich eine Erektion abhob. Letzthin hatte er sein Haar und den Bart einfach wachsen lassen. Nun war er der tote Heiland, der aufgebahrte Che in der Wäscherei von Higueras – das Bild, das um die Welt gegangen war. Nur dass die Augen des Vaters geschlossen waren und sein Haar und Bart ergraut. Der Che ist eben alt geworden in den dreiunddreißig Jahren seit seinem Tod. Er schnarchte unruhig, und sie sah seine Zähne zwischen den Lippen: ein mattes Lächeln, wie beim erschossenen Guerillero. Sie neigte sich weiter vor. Was macht er, wenn es ihm so kommt? Nach dem Tod der Mutter hatte sie ihn nie mit einer Freundin gesehen. Aber sie war ja in zwei Behandlungsphasen mehrere Monate nicht in seiner
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