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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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schwarze Johannisbeeren, Heidelbeeren und Loganbeeren hinzu. Mit den Heidelbeeren war es schwierig gewesen, und sie mussten den Bodenstreifen, auf dem die Sträucher standen, stets nachsäuern. Aber sonst wusste er eigentlich gar nicht, wie es dort aussah: Die Beerenkulturen waren ausschließlich das Reich der Frauen und Kinder. Wann immer dafür etwas Zeit war und die Sonne schien, tanzten durchs Grün die hellen Strohhüte, und Kinderstimmen erklangen hinter den langen Spalieren. Die Beerenernte gelangte, ebenfalls von flinken Frauen- und Kinderhänden auf die verschiedensten Weisen zubereitet, in lange Reihen kleiner Glasgefäße. Weitere Marmeladen und Säfte wurden aus wilden Brombeeren und aus Hagebutten gewonnen, die im Herbst von den Familien der Landarbeiter aus der Umgebung eingesammelt wurden. Und Rotraud schnitt zu gegebener Zeit Rhabarber aus ihrem Gemüsebeet, pflückte mit Hilfe der Kinder Holunderbeeren und verarbeitete diese Ernten ebenfalls zu Marmeladen und Säften. Davon musste sie immer einen großen Vorrat für den nächsten Sommer aufbewahren, denn Dr. Elias Königsberg wurde während der vier Wochen seines Aufenthalts von all den Verlangen heimgesucht, die er im Laufe eines langen Arbeitsjahrs mit »Wahnsüchtigen« (so Königsberg) hatte unterdrücken müssen – er nannte es sein Kur-Syndrom. Zu den Kurmitteln gehörten neben dem dunklen hausgebrauten Bier aus Quemquemtréu das Lammfleisch, die Pilze, natürlich Kipflerkartoffelsalat und, in allen möglichen Varianten, eben Holunder und Rhabarber – sei es als Marmeladen in den Palatschinken, zum Kaiserschmarrn, auf dem Frühstücksbrot, oder süß-sauer in Soßen zum Feldhasen.
    Die frühmorgendliche Kälte stach in Treugotts grobe Gesichtshaut. Bertl wechselte vom Winseln in ein verhaltenes hustendes Gebell über. Herr und Hund sahen aus dem Schatten der Nussbaumallee die vier chilenischen Tagelöhner hervorkommen. Chilenen arbeiteten gern auf der argentinischen Seite, denn hier verdienten sie das Doppelte und der Wein kostete die Hälfte. Ihr bloßes Erscheinen bedeutete für Treugott schon ein Element der Beruhigung: Das notwendige Tagwerk konnte also in Angriff genommen werden. Denn sicher war das keineswegs. Vor allem montags lag alles im Ungewissen, da schliefen sie oft ihren Rausch aus. Auch im Lauf der Woche konnten sie manchmal mit den unwahrscheinlichsten Ausreden fehlen – nur am Samstag, dem Zahltag, da war auf sie Verlass. Oder wie heute, an diesem Freitag, dem 31. Dezember 1999. Morgen war Neujahrs- und Feiertag. Rotraud hatte nach altem Brauch am Tilo-Hof für jeden Arbeiter eine Kiste voll Apfelmost, schwarzem Tabak und einer Mehlspeise aus luftig aufgegangenem Germteig mit Nüssen und Dörrzwetschken vorbereitet.
    »Guten Morgen, patrón!«, grüßten die Männer unisono den verhüllten Buckligen, ohne ihre Zigaretten aus dem Mund zu nehmen, und tippten mit dem Zeigefinger an ihre schwarzen Baskenmützen. Sie entfernten sich in Richtung Werkzeugschuppen. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Gästehauses – neuerdings waren darin vier Suiten untergebracht, die Bäder mit Jacuzzis ausgerüstet –, und im präzis übereinstimmenden Steppschritt startete Gretls Neffe Benny Krohn mit seiner Ehefrau Sarah von der Veranda aus zum gemeinsamen Morgenlauf – in rot-grauen Polohemden, karierten Shorts und unwahrscheinlich massigen Nikes. Atem dampfte vor ihren Mündern, federnd hüpften sie die zwei Stufen hinunter und trabten dann mit schwingenden und abgewinkelten Armen und zunehmender Energie über den Vorhof. »Good morning, Trigo!«, riefen sie dem vermummten Hausherrn zu. Treugott Lagler schaute ihnen nach, wie sie mit ihren starken und gleich langen Beinen so leichtfüßig in die Nussbaumallee einbogen und zum Tor des Tilo-Hofes hinuntertrabten. Es riss ihn im Becken. Nein, diese beiden wird er nicht mehr zum Wettlauf herausfordern können. Niemanden, nicht einmal Dr. Königsberg oder Siegmund Rohr, und die sind mehr als zwanzig Jahre älter als er. Damit war Schluss – das wusste er jetzt, an diesem letzten, kalten Morgen des Jahrhunderts. »Ernst machen, umbringen!« Da fiel es ihm plötzlich und zum ersten Mal ein: die Stimme des Vaters! Diese Worte hatte er fordernd ausgeschrien, als der Kurzwellenempfänger die Festnahme des »Duce« durch die Partisanen verkündete. Der fünfjährige Bub aber hatte damals nicht erraten können, wem das gegolten hatte.
    In der stehenden Luft lag immer noch etwas Geruch

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