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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Antichambrieren bei Regierungsbehörden, Antragsformulare bei NGO s ausfüllen, Mitgliedschaft bei den »Müttern der Plaza de Mayo«. Und natürlich Hilfegesuche an europäische Botschaften, eine Bittstellerreise nach Wien, wo ihr Fall auch kurz in die Medien kam. Clementine Holberg, fünfzehn Jahre älter und mit ihrem illustren Familiennamen, begleitete sie oft und gern und war ihr eine Stütze, wenn sie wieder einmal unverrichteter Dinge auf der Straße stand. Darauf gingen die beiden Damen in eines von Clementines vertrauten Kaffeehäusern und Hedwig konnte ihre Enttäuschung und ihren Schmerz vor ihr ausschütten.
    In solchen Augenblicken sei Haroldo ihr etwas weniger weggenommen und entrissen, merkte Hedwig an – woraus Clementine ihre eigenen Schlüsse zog: »Ich hab ihr doch geholfen. Und sie hat begonnen einzusehen, dass es nicht anders hatte kommen können.« Das sagte Clementine sich freilich etwas später, nachdem ihre unglückliche Freundin an einem langjährigen Lymphdrüsenkrebs gestorben war – so sehr sie heroisch gegen ihre Krankheit gekämpft hatte, weil sie vorher das Schicksal ihres Sohnes hatte aufklären wollen. Nach dem Ende der Militärregierung, als man Hunderte von namenlosen Gräbern entdeckte und öffnete, nahm Hedwig immer wieder an den Ausgrabungen der Gerichtsanthropologen teil. Auch Clementine begleitete sie mehrmals und war über die rostigen Drahtfesseln um die Fuß- und Handgelenke der Toten empört, weil das auf die Schäbigkeit des Hinrichtungsverfahrens hinwies. Von Harald aber fand sich nie eine Spur. »Mach es dir nicht so unerträglich schwer, versuche zu vergessen! Was erwartest du dir von den Beweisen … Die Terroristen haben ja auch Menschen umgebracht, das ist das Elend der Politik, ich habe das alles früher schon in Wien erlebt, dieses Jahrhundert ist vergiftet …« So redete Clementine auf Hedwig ein.
    Zwei Jahre nach Hedwig Holzapfels Tod – Clementine hatte sich am offenen Sarg lange in ihr Gesicht vertieft und in ihm nicht das geringste Zeichen von Frieden oder Erlösung gefunden –, rief ein Gerichtsanthropologe bei Clementine Holberg an. Es sei unglaublich, und er empfinde es als tragisch, aber man habe erst jetzt die Gebeine von Haroldo »Olsaffel« identifizieren können: nämlich nahe einem früheren Knochenfund aus dem Uferschlick des Rio de la Plata, dem auch Hedwig beigewohnt habe. Freilich seien dies unvollständige Reste: nur ein paar nackte graugelbe Knochen und ein Unterkiefer, aber ohne Zweifel mit Haroldos genetischem Code. Mehr gäben die Funde nicht preis. Es sei auch niemand mehr da, der noch etwas wissen wolle, entgegnete ihm Clementine. Dann aber hatte sie den ganzen Tag weinen müssen und es Hedwig ins leere Zimmer hinein erzählt.
    Der Strom der Erinnerungen drohte nun, sie in das Leichenschauhaus zu führen, wo ihre letzte Freundin jetzt lag, die Sängerin Olga Rebikoff. Erregt zerrte Clementine an ihrem breiten goldenen Ehering wie an einem Zauberwerkzeug, das Gedanken verscheuchen kann. Nein, das will ich heute vermeiden! Diese Erinnerung, in Fortsetzung von Hedwigs Geschichte, wäre ihr jetzt unerträglich. Auch irgendwie unhygienisch! Kraftvoll knallte sie Waggerls Roman auf den Nachttisch und stemmte sich ächzend aus dem Korbstuhl. Und sofort wurde sie abgelenkt von ihren trüben Erinnerungen: als sie, zum Fenster gewandt, auf ein landschaftliches Wunder blicken durfte. Zögernd und tänzelnd – »verschämt, und das zu Recht«, dachte sie – sanken Schneeflocken herab, erst grau am Himmel, dann weiß im Garten, und wie lange wohl schon? Es überkam sie sogleich ein heimatliches Schneefallgefühl, das sie von ihrer Kindheit an begleitet hatte: Kaum schneit es, meint man, es habe bereits ewig so geschneit und werde so weiterschneien in alle Ewigkeit. Clementine stützte sich auf das Fensterbrett, versank in Andacht und atmete das dazugehörige Aroma des Holzfeuers aus ihrem Öfchen ein. Manchmal durchwirbelte ein Windstoß die friedlichen Flocken.
    Sie wusste nicht weshalb, aber etwas bewegte sie, den Satz zu sprechen: »Das ist doch Schnee von gestern …« und ihre Worte mit der Melodie eines geliebten Richard-Tauber-Liedes zu unterlegen: »Gib mir dein Herze«, wo es heißt: »So gib mir meine Ruhe zurück/ Oder leg mich ins Grab!/ Deine Ruh kann ich dir nicht geben,/ weil ich selber keine hab.«
    In dem Moment gewahrte sie Dr. Elias Königsberg, der eben den Garten betrat. Er war in einen weiten, weißen, sicherlich weichen

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