Scherbengericht: Roman (German Edition)
gusseisernen Ofen nieder, und nach wenigen Minuten schon züngelten die Flammen zur Rohröffnung hin, fing das Kleinholz knackend Feuer. Sie nahm ein paar Scheite aus dem vollen Korb neben dem Ofen und schob sie hinein.
»Ich komm später wieder und lege nach, ja?«
»Nein, ich dank dir, das kann ich selbst besorgen – ich bin ja noch nicht neunzig«, wehrte Clementine ab und schlug, in ihre Lektüre vertieft, eine Seite um.
Aber Rotraud hatte noch etwas auf dem Herzen. Sie schluckte, statt zu lachen, und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Clementine, ich habe solche Angst um Trigo. Er kann nicht mehr gehen und ist verzweifelt. Von einem Rollstuhl will er aber nichts wissen. Er ist schwer deprimiert …«
Clementine hielt jetzt Rotraud, geradezu exorzierend, ihren Waggerl entgegen.
»Das ist der Kommunismus, Rotraud, der zerfrisst den Geist und dann erfasst er den Körper. Wir haben dagegen angekämpft – und fast gesiegt –, aber das wird bis heute nicht verstanden.«
»Nein, Clementine, die Hüftgelenke sind’s. Er hat den lebenslangen Kampf gegen sein kürzeres Bein verloren. Ich hab so ein Gefühl, als stünde uns ein großes Unglück bevor.« Ihr helles Auflachen klang nun verzweifelt; sie eilte aus dem Zimmer, ohne das beschwichtigende Händewedeln Clementines zu beachten.
Die Greisin konnte sich wieder in die Polsterung zurücksinken lassen. Waggerls »Mütter« fielen ihr in den Schoß. In rascher Folge war über Hedwig Holzapfel vier Mal schwerstes Unglück hereingebrochen. Jedes einzelne davon hätte ausgereicht, eine Frau, eine Mutter, eine ganze Familie zu zerstören. Kurz nachdem ihr Helmuth wegen seiner Herzinfarkte in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war, hinterbrachte man seiner Frau, dass er sich an manchen späten Abenden auf dem Großbahnhof Constitución mit jungen Männern treffe, mit eher dunkelhäutigen, langhaarigen Jünglingen, die arm und mindestens zum Teil indianischer Herkunft waren. Zur Rede gestellt, gab Helmuth diese Begegnungen zu. Er bestritt auch nicht, dass die Strichjungen ihn in schäbige Absteigen des Bahnhofsviertels geführt hätten. Hedwig Holzapfel ihrerseits hatte nicht verhindern können, dass die peinliche Geschichte sich herumsprach und auch ihre Kinder – Eva und Haroldo, damals sechzehn und achtzehn Jahre alt – davon erfuhren. Es dauerte in dem stumm und bleischwer gewordenen Haushalt nur einige Wochen, bis der promovierte Chemiker eine fachmännisch dosierte Giftmenge mit todsicherer Wirkung einnahm. »Ganz schlimm, sicher, aber irgendwie doch auch eine Erlösung. Wie hatte es die arme Frau nur so lange neben diesem herzkranken warmen Bruder aushalten können?«, fragte sich Clementine kopfschüttelnd.
Bald darauf sei ein mörderisches Jahrzehnt über Argentinien hereingebrochen, behauptete Hedwig. Es habe schon in den gewalttätigen Monaten nach dem Tod von Präsident Perón begonnen, als die Vizepräsidentin, seine Ehefrau und Witwe Isabel, legal sein Amt übernommen hatte, und setzte sich fort, nachdem wenige Monate darauf, 1976, das Militär ihr die Macht entriss. Damals habe Haroldo, der inzwischen Jurastudent im ersten Semester war, an der Fakultät einige Montoneros kennengelernt und mit dem von ihnen geführten gewalttätigen Kampf gegen die Diktatur, der Stadtguerrilla, sympathisiert. Diese jungen Leute, Studenten und Arbeiter, beraten und agitiert von Intellektuellen und Berufspolitikern, wollten Argentinien aus den Fängen des amerikanischen Imperialismus und der kollaborierenden nationalen Oligarchie befreien. Denn, wie vorher schon in Chile, habe sich ja gezeigt, dass die USA jede volksnahe, sozialistische Demokratie in Lateinamerika untergraben und lieber auf reaktionäre Militärs und das Großbürgertum als Machthaber setzten. Diese mutigen Idealisten, Verzweifelten und vielleicht auch einige Fanatiker und Gewalttätige unter ihnen, hatten sich vorgenommen, mit Flugblättern und Blitzkundgebungen, mit Sabotagen und Bombenanschlägen, mit Ermordungen von Polizisten, Offizieren und ausbeuterischen Unternehmern, das autoritäre Herrschaftssystem zu provozieren, damit es seine wahre, repressive Natur, sein »faschistisches Gesicht«, vor dem Volk enthülle und dessen massiven Widerstand hervorrufe. Aber nur die Provokation sei den Stadtguerilleros gelungen, und das weit über das erwartete Maß hinaus, räumte Hedwig ein. Viele Montoneros, andere Linke, oft völlig Außenstehende, seien blindwütig »ausgemerzt« worden, so wie es
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