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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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bereits die Witwe Peróns in ihrer kurzen Regierungszeit den Generälen per Dekret befohlen hatte: verfolgt, in geheime Gefängnisse gepfercht, gefoltert, umgebracht, verscharrt. Zehntausende. So seien sie nur noch als die Namen von sogenannten »Verschwundenen« zurückgeblieben, erzählte Hedwig ihrer Freundin ins ungläubig staunende Gesicht. In der folgenden Zeit wurden sie von Angehörigen und Freunden, in quälender Ungewissheit, gesucht, viele werden immer noch gesucht. Manchmal treffe man – ja man treffe immer wieder – auf Knochenfunde, deren Geheimnis die Gerichtsanthropologen zu enträtseln versuchen.
    »Wieso auch ist dein Harald damals zu diesen Terroristen gelaufen?«, hatte Clementine sich später an Hedwig Holzapfel gewandt. »Das war nun einmal bewaffneter Widerstand gegen die öffentliche Ordnung, da kann man sich dann über die Folgen nicht beklagen.« Aber Hedwig schüttelte dazu nur den Kopf und erzählte ihrer neuen Freundin etwas mehr. Haroldo sei von einer langen Europareise zwar nach Argentinien zurückgekehrt, aber nicht mehr nach Hause, nicht ins Haus des toten Vaters. Er sei untergetaucht – »sumergido« lautete damals die gängige Formel. Haroldo hatte vorgegeben, die oberösterreichische Heimatstadt seiner Eltern und Großeltern – Vöcklabruck – besuchen zu wollen, aber in Wahrheit, wie Clementine später vom sonst so zurückhaltenden Witwenverein erfuhr, habe seine Reise dazu gedient, »in Wien, Berlin, München und Paris Geldspenden für die Montoneros locker zu machen«. Hedwig Holzapfels verzweifelte Nachforschungen endeten, wie in jener Zeit die Regel, sehr bald vor verängstigt oder bedrohlich schweigenden Beamten, vor amtlichem Nichtwissen oder glatter Hilfeverweigerung – selbst in der Österreichischen Botschaft. »Olsaffel …?« Ein argentinischer Oberstleutnant a. D. aus der Personalabteilung von Bayer, einstmaliger guter Bekannter ihres verstorbenen Mannes, den Hedwig in Begleitung ihrer schönen Tochter Eva aufgesucht hatte, presste sichtbar die Lippen zusammen, zog die buschigen Brauen hoch und starrte die beiden Frauen lange mit geweiteten Pupillen an, als bäte er sie inständig, doch auf dem Hintergrund seiner Augäpfel den derzeitigen Aufenthaltsort ihres Sohnes beziehungsweise Bruders abzulesen; sagen durfte er es ja nicht.
    Ein paar Monate nach dem Gespräch mit dem Oberstleutnant a. D. hatte sich Eva Holzapfel auf die Schienen der U-Bahn geworfen; Hedwig aber bestand darauf, ein Mordkommando der Militärdiktatur habe ihre Tochter vor den einfahrenden Zug gestoßen.
    In Evas Tagebuch war die Mutter dann auf Eintragungen über die Liebe zwischen den Geschwistern gestoßen. Unmittelbar nach dem Begräbnis des Vaters waren die beiden Untröstlichen, einander umarmend, auf Evas Bett gesunken; da habe sie zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen. Und Haroldo blieb auch der einzige Mann in ihrem kurzen Leben. Die Schwester notierte obsessiv den ganzen Schmerz und das verbotene Glück darin – wunderbar sanfte und zarte körperliche Erlebnisse und Träumereien. Clementine war der schwärmerische Unterton, in dem die Mutter sich an die Geschwisterliebe erinnerte, ungehörig erschienen, aber sie hatte dennoch, angesichts dieser Enthüllungen gefühlt, dass Hedwig trotz des Unglücks und der Perversion in ihrer Familie in Wirklichkeit keinen Trost brauchte – dazu war ihr Leid einfach zu maßlos, ja einzigartig. Also bot sie ihrer neuen Freundin einfache Erklärungen an: Alles rühre von der Homosexualität des schwachen, herzkranken Vaters her. Mit seiner invertierten Geschlechtlichkeit und ohne Rücksicht auf seine Herzschwäche und die Familie habe er die natürliche Ordnung im Weltbild der Kinder umgestürzt. Die unausweichlichen Folgen: Terrorismus und Inzest. Und Mutter Hedwig war Clementine für ihre krassen Schlussfolgerungen auch noch dankbar, denn so konnte sie ihr Schicksal in einem gebrauchsfertigen Rahmen sehen – hatte nun einen Gegenstand, über den sie mit anderen reden konnte. Für das Unfassbare, für das Unmäßige ihres Leides hätte es gar keine Worte gegeben. Clementine wusste das aus einer früheren Kenntnis von Ungeheuerlichkeiten, über die in ihrer Heimat lange Zeit nur geschwiegen worden war.
    Das ungleiche Paar verbrachte viel Zeit zusammen, Wochen am Meer und auf dem Land. Zugleich aber setzte Hedwig unermüdlich – Clementine: »Das ist doch völlig zwecklos!« – alle ihre Kraft daran, Haroldos Schicksal aufzuklären.

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