Scherbengericht: Roman (German Edition)
Also los!« Der Wagen sprang an.
»Pa – wir müssen vorher noch in Puerto Madryn unterbrechen. Ich brauche ganz viele weiße Lilien. Hoffentlich finden wir ein Blumengeschäft.«
Es war seinen zwei Jahren bei Dr. Elias Königsberg zu danken, dass er jetzt in aller Ruhe erwidern konnte: »Weiße Lilien in Puerto Madryn – das werden wir schon hinkriegen!«
Wieder die karge Steppe und das gelbe Gras, jetzt westwärts, im milchigen Licht des Spätvormittags. Ein Gürteltier warf sich vom Straßenrand in den Sandboden und versuchte, darin mit rasendem Gekrabbel zu verschwinden. Eine Strecke lang drang beißender Gestank durch die Lüftung ins Wageninnere. Dann kamen sie an einem Stinktier vorbei, das breitgewalzt auf dem Asphalt klebte. Später zeigte Katha dem Vater die Vogelinsel.
»Die hat Saint-Exupéry beschrieben, als er sie von seinem Postflugzeug aus sah. Ihre Silhouette soll ihn zum Umriss des Elefanten inspiriert haben, den die Schlange verschluckt, bevor sie dem kleinen Prinzen begegnet.«
»So?«
Es ging Katha offensichtlich nur darum, über Prinzen oder Prinzessinnen zu sprechen. »Du hast mir doch die Geschichte oftmals vor dem Einschlafen vorgelesen, erinnerst du dich, Pa?« Beschwörend richtete sie dabei ihre hellbraunen Augen auf den Vater: im Sonnenlicht durchsichtige Bernstein-Iris. Er wandte ihr sein Gesicht zu, bejahte und zeigte Freude an ihrer Erinnerung.
In dieses Antlitz musste er immer wieder blicken, sooft er nur konnte. Seit Jahren. Es war ein nicht zu hemmendes Hineinschauenmüssen, ein Versinken im rätselhaften Wechselspiel ihrer Gesichtszüge. Aber je mehr er in letzter Zeit darin suchte und herumrätselte, desto verwirrender wurden sie ihm von einem Augenblick zum nächsten. Er begegnete seiner toten Judith, er entdeckte seine Mutter, er erkannte Gabriel, ja er fand sich selbst darin. Dann wieder tauchten in dem Antlitz verschiedene Spielarten ihrer selbst auf – eine kindliche, eine junge, eine alte Katha –, und in wenigen Sekunden konnte ein ganzer Lebensabschnitt vorüberziehen. Erst neuerdings aber, und immer öfter, huschte ein schneller Schatten über dieses Gesicht; sein Ausdrucksspiel erlosch, verflachte und verhärtete sich zu einer einfältigen, ängstlich dreinschauenden Kleinkindmiene. Diese Verwandlung wirkte erschreckend koboldhaft, sie kam ihm vor wie der drohende Auftritt eines fremden, irgendwo in Katha nistenden Wesens.
»Hey, Che, was glotzt du schon wieder so?« Mit einem einzigen Ruck zerrte sie sich geradezu das Haar aus dem Gesicht. Er konzentrierte sich sofort auf die Straße. Warum nennt sie mich in letzter Zeit immer wieder nach dem verdammten Guerillero? Sollte ich mir nicht besser den Bart abrasieren? Katha holte einen kleinen Notizblock aus der Handtasche.
»Ich mache mir Aufzeichnungen zu dieser Fahrt und über mein neues Leben. Hör dir das an, Pa: ›Wer in mir die Prinzessin erkennt, den nenne ich hellsichtig. Wer im Wal den Tran sieht, den nenne ich kriminell. Wer einen Goldfisch lieber hat als einen Wal, den nenne ich lächerlich.‹ Hörst du mir zu? Ehrlich, pass auf: ›Wer nicht tiefes Leid im Leben empfinden kann, den nenne ich humorlos. Wer Lärm ohne Rhythmus macht, dem soll die Zeit entrinnen.‹ Richtig! ›Wer sich nicht darüber wundert, dass er sich die sinnlose Frage nach dem Sinn des Lebens immer noch stellt, den nenne ich einen Blödmann …‹ Verstehst du? Wie findest du das? Du – Che!«
»Gut, Katha. Wie gut, dass du dir das alles notierst!«, konnte er nur sagen. »Aber lass mich darüber nachdenken. Es ist doch zum Nachdenken, oder?«
Katha nickte und setzte ihre Sonnenbrille auf. Mit dem Psychiater hatte Martin bereits frühere, ähnliche Aufzeichnungen Kathas kommentiert. (»Wem nicht bewusst ist, dass das Leben nur eine Schwäche der Materie ist, den nenne ich abgestumpft. Wer im Baum nur das Holz sieht, den nenne ich einen Mörder.«) Und dabei waren sie auf Übereinstimmungen zwischen den Beschwörungsformeln mancher Klienten mit dem Selbst- und Weltbild der patagonischen Indios zu sprechen gekommen. Martin hatte damals gerade begonnen, sich mit der Kultur dieser Indianervölker zu beschäftigen, denn er musste nach Begriffen oder Metaphern suchen, mit denen er ihnen sein Umsiedlungsprojekt schmackhaft machen könnte. Er studierte ihre Sprache, die verwirrend vielfache Bedeutung einzelner Ausdrücke und deren magische Verbindung zu Naturphänomenen. Er teilte die Meinung einiger Anthropologen, dass man mit
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