Scherbengericht: Roman (German Edition)
bedrohten Urvölkern nicht aus der Sicht der UN -Menschenrechtscharta oder mit dem Vokabular der Aufklärung verhandeln könne. Was verstanden sie tatsächlich unter Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Individuum, Entwicklung, Eigentum? Der Psychiater war sofort begeistert mitgegangen: Er fand wieder neues ethnografisches Material, das ihm in seinem Bestreben helfen würde, die Psychoanalyse der Freudianer zu überwinden – sowohl ihre eurozentrische und individualistische Sicht wie ihre an konventioneller Vernunft orientierte Therapie, ihre »Saubermann«- und »Ordung-muss-sein«-Therapien. »Wissen Sie, wie mein alter holländischer Kollege Hans Israëls einst Sigmund Freud genannt hat? ›De Weense kwakzalver‹! Klingt das nicht prächtig? Aber natürlich könnten wir mit unseren Überlegungen unversehens wieder bei Fritz Perls landen.«
Katha unterbrach sein Nachsinnen. »Pa, ich muss dir noch meinen wunderbaren Traum von letzter Nacht erzählen. Stell dir vor, mir hat geträumt, ich sei gesund. Mitten in der Stadt sind mir Patienten aus der Klinik begegnet. Das Verrückte war, alle in ihren Pyjamas oder Nachthemden. Nur ich trug Straßenkleidung. Sie haben mich sehr wohl erkannt, aber nichts gesagt, mir nur wortlos, wie zum Abschied, zugewunken. Auch Evaristo, der mich so sehr lieb hat, war unter ihnen, mit einem Stück blauem Glas in der Hand. Und ich wusste, dass ich geheilt war, völlig geheilt. Ich grüßte sie lachend und rief ihnen immer wieder zu: ›Ich bin geheilt! Ich bin geheilt!‹ Eine so unglaubliche Freude erfüllte mich, ein ganz unbeschreibliches Glücksgefühl. Echt fröhlich fühlte ich mich, super als ich aufwachte – als Geheilte erwachte!«
»Das ist gar kein Traum mehr, Katha. Man hat dich entlassen! Jetzt ist’s genug, hast du ihnen gesagt. Du hast dich einfach gesund gefühlt. Und dass du diese Reise mit mir unternehmen willst, hast du gesagt. Dein Traum hat dir das einfach bestätigt.«
Martin empfand einen physischen Schmerz bei seinen Worten. Etwas krallte sich um seine Stirn, um seinen Hals, umspannte sein Herz. Da hatte ihn etwas im Griff, in der Zange, ein würgendes, ganz begriffloses Wissen, das ihn aber gleichwohl ansprang mit wortloser Gewalt.
»Ja, ein Traum wie die Wirklichkeit! Weißt du Pa, einmal habe ich mir gedacht, dass jeder Mensch sein Leben nur träumt: Er träumt sich selbst, die, die er liebt oder hasst, Lady Di, die Wale, die Gorillas, die Bäume, sein Glück, seine Schmerzen – und sein Erwachen. Dieses geträumte Erwachen erschreckt ihn aber so sehr – es wäre ja sein Tod –, dass er tatsächlich erwacht. Was kann er dagegen machen? Also steht er auf, putzt sich die Zähne, duscht, bürstet sich das Haar, wählt seine Kleider, geht seinen alltäglichen Beschäftigungen nach. Aber sicher ist er sich nicht, ob dieser neue Tag nicht doch wieder nur ein Traum ist. Hofft er das vielleicht?«
»Das klingt ja ganz nach einer wunderbaren Borges-Geschichte!«, rief Martin aus, und im selben Augenblick war ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte: Er hatte sich distanziert, hatte ihre confession wie eine Lesetrophäe gleichsam aufgespießt, statt einfach mit seinem Herzen an ihr Anteil zu nehmen. Entsprechend stumm reagierte Katha; sie schwieg verstockt, bis Puerto Madryn in Sicht kam.
An einem Kiosk an der windigen Strandpromenade erkundigten sie sich nach einem Blumenladen. Aber es gab keinen, und am Ende mussten sie einen Verkaufsstand vor der Mauer des weit abgelegenen Friedhofs suchen, um die letzten oder einzigen vierzehn weißen Lilien von Puerto Madryn zu finden. Katha gab dem Blumenhändler genaue Anweisungen, wie er den riesigen Strauß zu binden habe; immer wieder musste er die Blumen anders ordnen. Nach mehreren Versuchen sagte Katha: »Können Sie denn nur an Gräber denken? Geben Sie endlich her! Diese Blumen sind für Lady Di.« Sei’s drum, so viele teure Lilien hatte der Händler noch nie an einen einzelnen Kunden verkaufen können – da konnte er die Heftigkeit der eleganten jungen Frau schon schlucken. Zusätzlich winkte ihr alter Liebhaber auch noch großzügig ab, als er ihm das Wechselgeld herausgeben wollte.
Kurz vor Mittag erreichten sie Gaimán. Es war, wie Martin Katha erzählte, eine der ältesten Ortsgründungen der Auswanderer aus Wales, die sich in Chubut angesiedelt hatten. Vor hundertfünfunddreißig Jahren habe der Segler Mimosa die Waliser an der Küste dieser steinigen und dürren Einöde – fast möchte er sagen
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