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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Bademantel gehüllt, der bis zum Boden reichte. Sein dichtes weißes Haar trug er straff zurückgekämmt und zu einem Schweif am Hinterkopf verknotet. Er hob sein Haupt dem Flockentreiben entgegen. In der Helle wirkte seine braune Gesichtsfarbe noch dunkler, zeichnete sich die große Nase noch schärfer ab. Barfüßig schritt er durch die dünne Schneedecke, aus der überall noch Grasspitzen hervorstanden. Clementine trat in die Tiefe des Zimmers zurück, um nicht entdeckt zu werden. »Unser Schamane – friert diesen Siouxhäuptling nicht?« Der Vermummte war unter der schirmenden Linde angelangt. Er lehnte sich mit herunterhängenden Armen rücklings an den Stamm und seine Finger tasteten über die Rinde. Er war wohl in Trance gefallen, so versunken in den Schneefall stand er dort.
    Dann musste sich Clementine um ihr Feuer kümmern und wandte sich dem Ofen zu. Er verbreitete bereits angenehme Wärme. Sie legte ein Scheit nach. Ohne sich aus ihrer gebückten Haltung vor der Ofentür aufzurichten, spähte sie wieder in den Garten hinaus – aber der Schamane war verschwunden und die Flocken fielen nur noch spärlich. Sie schlurfte zum Bett und ließ sich einfach auf die bunte Überdecke fallen. Es galt, Kräfte für den Silvesterabend zu sammeln. Überhaupt, für die Begegnung mit ihren Enkelkindern, mit Martin, mit allen anderen. Herrgott, sie war doch diesmal wieder der Mittelpunkt.

5
KATHA UND MARTIN
    Martin saß im Auto vor dem Motel und wartete. Der Abschiedsgruß Docksiders schien Katha beruhigt zu haben: Sie hatte noch duschen und sich umkleiden wollen. Ihm waren seine verwaschenen Jeans und das grob gewürfelte Holzfällerhemd gut genug für alles, was dieser lange Tag noch bringen mochte, vor allem für das Treffen mit den Mapuches. Er hatte das zweite Klavierkonzert von Eugen d’Albert eingeschoben. Sein Musikinteresse galt in letzter Zeit den Komponisten, die er einfach der zweiten Liga zurechnete – den vielen Talenten, die ewig im Schatten der beglaubigten Genies stehen, neuerdings aber im Konzertbetrieb und der Tonträgerindustrie vereinzelt wieder auftauchten. (War das Publikum womöglich von der Oberliga übersättigt?) Er machte dabei Entdeckungen, in die er sich dann gern vertiefte, wie neulich bei dem schwedischen Frühromantiker Franz Berwald. Roberto Williams fiel ihm ein: Für dessen teure Ray-Ban-Brille hatte er den Wal-Waliser entschädigen müssen. In der Reisespesenabrechnung würde das nicht unterzubringen sein.
    Katha klopfte aufs Wagendach und entriss ihn seiner Versunkenheit. Ihre Erscheinung überraschte ihn. Sie trug jetzt einen leicht taillierten, taubengrauen Blazer; was darunter von der Bluse zu sehen war, bestand aus einem Rokoko von Rüschen und Spitzen, überlagert von einem Doppelcollier blauer und weißer Milchglassteine. Von ihrer Schulter hing die kirschrote Ferragamo-Tasche, die er Judith vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte – dem letzten. Als Katha sich in den Sitz an seiner Seite fallen ließ, strich sie ihren langen, hellblauen Leinenrock zurecht. Er bemerkte ihre ebenfalls hellblauen, flachen Ballerinaschuhe. Ein frisch-kühler Duft verbreitete sich im Wageninneren. Sorgfältig hatte sie das rot schimmernde Haar aufgesteckt; als sei es nicht zu bändigen, fielen ihr dennoch mehrere Strähnen ins Gesicht. Und sofort musste er sich über seine Befürchtungen ärgern: Als Katha mit wiederholten heftigen Handbewegungen die Locken aus ihrem Gesicht verscheuchte, erschien ihm das als Zeichen der Abwehr gegen aufdringliche Gedanken oder Empfindungen. Der Hotelboy, der ihr mit zwei großen Reisetaschen gefolgt war, verstaute das Gepäck im Kofferraum. D’Alberts locker hingefetzte Akkordketten überschlugen sich und gingen im aufbrausenden Orchester unter. Martin bemühte sich, seine Tochter mit einem erfreuten, zustimmenden, ja ermutigenden Ton in der Stimme zu begrüßen. Wie sorgfältig sie sich doch in der kurzen Zeit geschminkt – Wimperntusche, Lippenstift, bläuliche Striche um die Lidränder – und die naturbelassenen, rotbraunen Augenbrauen gebürstet hatte: diese hohen Bögen, die an jener Stelle etwas dichter werden, wo in feinem Schwung die Nase ansetzt.
    »Du siehst gut aus, Katha, du bist hochelegant – als hättest du einen bedeutsamen Besuch vor.«
    »Hab ich doch! Du siehst auch echt gut aus, Pa, allerdings reichlich casual in diesen Klamotten.«
    »Dabei muss ich heute Abend noch die Sache mit den Mapuches abwickeln. Erst danach bin ich frei.

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