Scherbengericht: Roman (German Edition)
Handbewegung zum Weitergehen ein und schritt ihnen voraus. Hinter der Doppeltür des Eingangs fanden sie sich in einem geräumigen Vestibül sogleich dem Altarbild gegenüber – einem überlebensgroßen, mit breitem Goldrahmen versehenen Fotoporträt der Verunglückten. Darunter stand auf einer Marmorkonsole eine hohe Vase mit weißen Lilien. Weitere Blumenarrangements waren zu beiden Seiten der Vase aufgebaut, und zwischen den Blüten steckten Zettel, Postkarten und Briefe. »Schau doch, in ihrem Inneren flüchtet ein verängstigtes Reh«, flüsterte Katha ihrem Vater zu und deutete auf das Porträt. Ihm erschien die Verunglückte mit dem scheuen Lächeln und dem flehenden Blick eher wie eine umstellte Hirschkuh, die ihre Verfolger zu becircen versucht. Die strenge Frau in der Schwesterntracht nahm Katha die Blumen ab und vermischte sie umständlich, ja geradezu unwillig, mit den anderen in der Vase.
»Allerdings sieht man jetzt deutlich, dass unsere nur chinesische Kunstblumen sind, aus Plastik«, bemerkte sie missbilligend. »Na ja, lange werden die Ihren nicht halten, einige sind schon ganz welk. Sie brauchen Wasser. Schauen Sie sich um, nehmen Sie sich Zeit.« Sie ließ die Besucher im Vorzimmer allein.
In Andacht versunken, die Hände vor dem Schoß wie zum Gebet gefaltet, aber sie auch gleich wieder ruhelos knetend und verschränkend, stand Katha mit gesenktem Kopf vor dem Altar. Die Ferragamo-Tasche hatte sie auf den Boden gestellt. Es schien Martin, dass sich die widerspenstigen Haarbüschel auf Kathas Nacken sträubten; mehrmals warf sie ruckartig die Schultern nach vorne, als stieße jemand gegen ihre Brust, und sie schluchzte leise. Die Andacht wurde von einem leisen Plätschern, das aus dem Salon kam, begleitet. Bald meinte Martin, der Blick Dianas unter der diademgekrönten Stirn ruhe spöttisch auf ihm, und ihr Lächeln kam ihm nicht mehr scheu betörend vor, sondern berechnend und Anbetung fordernd.
Darauf erschien die Weißgekleidete wieder, diesmal mit einem Krug. Sie baute sich vor Katha auf und versuchte mit nachdrücklich vorgeführter Mühe, zwischen den Blumenstielen Wasser in die Vase zu gießen. Mit einem Seufzer wandte Katha sich von ihr ab. Die Tür zum Teesalon stand offen. Drinnen herrschte Halbdunkel, die Vorhänge waren noch zugezogen, und in der Mitte des Raumes entdeckte Martin schließlich den Springbrunnen, dessen Plätschern er bereits in der Eingangshalle vernommen hatte. Von den Wänden lächelte die Prinzessin auf Dutzenden von Bildern, die von den wichtigsten Stationen ihres Lebens- und Leidenswegs berichteten. Neben dem Brunnen, eine Mischung aus Fontäne und Weihwasserbecken, waren in einer beleuchteten Vitrine die Reliquien ausgestellt: Auf blassem Atlas lag das lavendelblaue Teegeschirr, das die Lippen und Fingerspitzen der Lady Di berührt hatten.
»Stell dir vor, Pa, das liegt nur knapp fünf Jahre zurück. Ich könnte mir denken, dass am Rand der Tasse noch ihr DNA -Abdruck klebt, vermischt mit Spuren von ihrem Lippenstift. Und der Henkel duftet vielleicht noch wie ihr Parfüm.«
Wieder studierte Martin das versonnen dreinblickende Gesicht seiner Tochter. Es wurde vom feierlichen Schimmer der Vitrine erhellt. Wie sie es doch immer wieder schaffte, beschwingt aus ihrer Welt zurückzukehren, und wie er ihr diese Verwandlung immer wieder glaubte! Ihr Blick war nicht froh, aber auch nicht traurig, er war einfach frei, und das entfachte sogleich neue Hoffnung in ihm, sie diesmal »hier« behalten zu können. Er lächelte ihr aufmunternd zu, vermeinte, jetzt zusammen mit ihr wie früher etwas Gemeinsames unternehmen zu können, wollte das auch schon in Worte fassen – bis er die Mattigkeit unter dem Tränenfilm ihrer Augen bemerkte, als würde ihr Blick sich von ihm entfernen und an Schärfe verlieren … Und er musste erkennen, dass Katha ihn – und alles, womit er sie hatte begleiten wollen – schon wieder von »dort« sah, wo er nicht war. Wo er niemals sein würde?
Jetzt öffnete sich im Hintergrund eine Tür, die zu einer grell erleuchteten Küche führte. Vier gleichfalls in Weiß uniformierte Frauen betraten den Salon. Alle trugen auf ihren steifen Frisuren weiße Häubchen, konditormäßig wie Schlagobers aufgespritzt. Auffallend war die Reihenfolge ihres Hereinkommens, offenbar strikt nach Körpergröße: zuerst eine hochbeinige, aber schwerleibige Blondine, zuletzt eine zarte, kleine Brünette. Die Frauen nahmen von Martin und Katha keine Notiz und machten
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