Scherbengericht: Roman (German Edition)
»ausgesetzt«. Aber hier mündete nun einmal ein breiter Fluss ins Meer, und seine Quelle musste in einem regenreichen Gebiet liegen. Voller Hoffnung seien die Auswanderer an Land gegangen, beseelt von dem Traum, sich hier ein fruchtbares New Wales zu schaffen. Aber auch viel tiefer im Hinterland wären ihre Kundschafter immer nur auf ebenso unwirtliches Terrain wie hier gestoßen. Also hätten sie nach vielen bitteren Fehlschlägen, wie sie zu jeder Saga der Kolonisierung gehörten, in Küstennähe schließlich Bewässerungsgräben ausgehoben und auf dem so erschlossenen Land nach und nach reiche Ernten erzielt und ihre Schafherden vermehrt. Die Erinnerung an die mit Kohlenstaub bedeckten Gesichter der Kumpel, an die englischen Herrenmenschen, an die Abhängigkeit vom Akkordlohn, an den Hungerwinter von Newport – all das sei bereits in der dritten Generation verblasst. Hier in Patagonien hatte es keine industrielle Revolution gegeben, hier waren sie frei, hier konnten sie ungestört ihre Hymne singen – »Hen Wlad Fy Nhadau« –, hier konnten sie ihre Sprache pflegen und ihre Kirchen bauen und alljährlich mit dichtenden und singenden Barden das ihnen heilige Stammesfest Eisteddfod veranstalten. Allerdings – heute mochte so mancher walisische Barde nicht nur Morgan, Dafydd oder Llewellyn, sondern auch einmal Martínez oder García heißen, und die jüngeren Frauen verstünden es längst nicht mehr, die bunten dicken Teekannenwärmer zu häkeln.
»Klasse«, bemerkte Katha nach dem Vortrag des Vaters, »ich liebe die Waliser, ausgenommen Roberto Williams.«
Martin erkundigte sich nach der Teestube, in der Her Royal Highness an jenem denkwürdigen 25. November 1995 an einem Himbeertörtchen geknabbert und mit rechtwinklig abgespreitztem kleinen Finger an einer Tasse Tee genippt hatte. Diese Geschichte kannte Katha in allen Einzelheiten, und jeder in dem Städtchen wollte dabei gewesen sein, als die Princess of Wales dem säuselnden Kinderchor huldvoll zugewunken hatte. Schon am Tag darauf war die Teestube zu einer Sehenswürdigkeit aufgestiegen, und zwei Jahre später, nach dem tödlichen Autounfall der Prinzessin, begann sie sich in ein Sanktuarium der Lady Di zu verwandeln – einer Gedenkstätte, zu der man wallfahrtet. »Gut vermarktet«, dachte Martin still, als sie zwischen gepflegten Zypressenhecken und Rosenbeeten das Teehaus erreichten: Es war in mediterranem Stil errichtet, ganz im Widerspruch zur patagonisch-walisischen Tradition.
Das Autounglück der britischen Prinzessin hatte sich nur wenige Tage nach dem Tod Judiths ereignet. Ins Bett der verstorbenen Mutter verkrochen, hatte Katha unablässig sämtliche Wiederholungen im argentinischen Fernsehen verfolgt: die Aufnahmen aus Paris, die Lady Di in einer Drehtür des Ritz an der Place Vendôme zeigen (»Pa, schau, dieser Schwung, dieser Rhythmus!«), ihren eleganten orientalischen Lover, dann das blasse Schemen im zerstörten Mercedes, und vor allem die ständigen Rückblenden aus ihrem Argentinienbesuch. Königliche Hoheit beim whale watching im Golfo Nuevo, hingerissen erst von den kopulierenden Säugetieren im Südatlantik, dann von der süßen Kinderschar vor dem Teehaus. Huldvoll verspricht die Prinzessin: »Ich komme wieder. Beim nächsten Mal will ich dieses Schauspiel meinen Söhnen zeigen!« Sie ist umgeben von einer bunten Schar andrängender Walisernachkommen, die ihr die Hände entgegenstrecken, von fotografierenden Touristen und steifen argentinischen Provinz-Honoratioren in dunklen Anzügen. Auf bald, auf bald, dann aber mit meinen beiden Söhnen!
Im Bett der toten Mutter wurde Katha bei jedem dieser Bilder von Weinkrämpfen überwältigt. Mama, Wale, Wasser, Wales, Tränen – alles wurde eins.
Martin parkte. Auf beiden Armen schaukelte Katha ihren Blumenstrauß vor der Brust. Aus dem von einer schattigen Galerie umgebenen Haus trat eine Frau in einer Art weißer Schwesternkleidung heraus. Ihr Haar um das flache Häubchen herum war grau und straff frisiert.
»Guten Tag, wir öffnen erst zur Teestunde«, verkündete sie den Ankommenden und blickte vorwurfsvoll, aber doch neugierig auf die großen Blütenkelche.
Martin erklärte der Frau, dass sie sich hier nur auf der Durchreise befänden und dass seine Tochter eine große Verehrerin der Lady Di sei. Ob sie nicht eben einen Blick in die berühmte Teestube werfen dürfe? Sie habe ihr ja auch Lilien mitgebracht.
Die Frau zuckte kaum merkbar mit den Schultern, lud Katha mit einer
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