Scherbengericht: Roman (German Edition)
sich wortlos an den Tischen zu schaffen. Offenbar begannen sie schon mit den Vorbereitungen für die Teestunde. Aber in ihrer leisen Tätigkeit kamen sie den Besuchern immer näher.
Martin fühlte, wie Katha seinen Arm packte und wie erstarrt auf die Gestalten im Dämmerlicht blickte. Heftig wischend entfernte sie wieder die Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Und dann brach es aus ihr hervor, keuchend und gepresst:
»Aber das ist doch eine Anstalt! Pa, das sind Wärterinnen! Sie kommen uns näher. Bringst du mich schon wieder in eine Klinik? Nein, nein, niemals!«
Sie stieß ihn von sich und rannte aus dem Salon in den Park hinaus, Martin mit der Ferragamo-Tasche ihr hinterher. Unterwegs zerrte sie sich den Blazer vom Leib und schleuderte ihn auf ein Rosenbeet. Aber sie ließ sich vom Vater einholen. Er versuchte erst gar nicht, von einem Irrtum zu sprechen; er legte einfach fest und zärtlich den Arm um ihre Schultern, zog sie an sich. Sie bebte.
»Wir fahren sofort weiter, Katha, wir fahren zur Oma; die freut sich schon so auf dich. Du wirst Gabriel wiedersehen.«
Katha nickte. Sie kauerte sich auf den Rücksitz des Wagens, ihr Gesicht gegen die Knie gepresst. Kein Blick mehr auf den Wallfahrtsort, als Martin zügig aus der Anlage hinausfuhr.
Nach ein paar Minuten hörte Martin ihre Stimme, umgeschlagen, sanft aus dem Wagenfond: »Entschuldige, Pa, ich habe mich schon wieder unmöglich benommen. Aber ich hatte solche Angst.«
Ihn hatte nach allem, was am frühen Morgen im Boot von Roberto Williams vorgefallen war, Kathas Entsetzen eben nicht mehr überrascht. Das war wie eine Wiederholung ihrer Panik beim Chorgesang der Wale gewesen. Nur traurig stimmte es ihn – noch trauriger, als er sich ihre Vorbereitungen im Motel vergegenwärtigte, die Auswahl ihrer Kleider, ihres Make-ups, die Suche nach den Lilien, alle ihre Erwartungen und dann, eben erst, ihre innige Andacht in der verkitschten Gedenkstätte.
Die Schnellstraße nach Westen verlief zunächst durch das breite Tal, das der Fluss im Geröll und den Ablagerungen des ursprünglichen Meeresbodens ausgewaschen hatte. Martin konnte ermessen, dass es den unermüdlichen Kolonisten aus Wales gelungen war, auch weiter flussaufwärts mit Schleusen und Kanälen den Strom zu regulieren und das wüste Tal in fruchtbare Äcker, Weiden und Obstkulturen zu verwandeln. Er hatte gelesen, dass die umherziehenden Ureinwohner, die nur vom Jagen und Fischen lebenden Tehuelches, bis Ende des 19. Jahrhunderts noch manche kleine Siedlung mit Pfeil und Bogen und Lanze überfallen hatten – bis sie schließlich vor dem argentinischen Militär zurückweichen mussten. Nicht selten beteiligten sich die Siedler an der Vertreibung. Manche Tehuelches wurden gejagt und einfach abgeschossen, während andere schon begannen, für die europäischen Eindringlinge zu arbeiten.
»Jede Ackerfurche, heißt es, sei mit Schweiß getränkt – aber ist sie nicht auch mit Indioblut getränkt?« Mit diesem pathetischen Satz hatte Dr. Martin Holberg mehr als einmal seinen Vortrag über die Kolonisierung von Indioland in Lateinamerika eingeleitet. Allerdings, sich selbst verhehlte er es nicht, dass diese Urbevölkerung, wie fast überall auf der Welt, früher nach ganz anderen Gesetzen vorgegangen war als denen, die sie jetzt für sich in Anspruch nahm. Obwohl Land in Patagonien nicht gerade knapp war, hatte ein Stamm den anderen bekämpft und besiegt, unterjocht, vertrieben oder ausgerottet. Ständig waren kleine, aber durchaus blutige Streitereien um Jagdgründe, um Weideland, um Wasserläufe und Quellen, später auch um beackerten Boden unter ihnen ausgebrochen.
Nun, er stammte väterlicherseits aus einer sogenannten Gründerfamilie dieser Republik und war selbst noch vom Geist ihrer ersten liberalen Verfassung erfüllt, die in ihrer feierlichen Präambel allen wohlgesinnten Völkern der Erde die Arme öffnet und sie zum friedlichen Zusammenleben auf argentinischem Territorium einlädt. Nur, die Ureinwohner hatte man damals wohl nicht gemeint und gewiss nicht gefragt. In der Kinderstube wurde er mit der Geschichte seiner eingewanderten Vorfahren vertraut: von ihrem Kampf gegen die nomadischen Indiostämme, um den »Völkern der Erde« ein friedliches und ertragreiches Farmerleben zu sichern – für immer. Allerdings, mütterlicherseits wehte in seine Kinderstube noch ein anderer Geist: vom glücklosen, missgünstigen Kleinbürgertum. Sein Vater Alberto Holberg, gutmütig und versponnen, wie er
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