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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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kochen? Sie verspürte überhaupt noch keinen Appetit. In der Silvesternacht hatte sie von den abscheulichen Haggis-Schnitten gekostet, nur Elias zuliebe, und von der knusprigen Ente auch nur einen Bissen, weil der Vogel so klein war, doch dazu hatte sie viel zu viel Apfelmus in sich hineingelöffelt. Nach Kathas wirrem Anruf aus dem fernen Huemules war sie anfangs in schlechtester Laune gewesen. Talentiert, das Mädel, aber depressiv und verrückt, genau wie ihre jüdische Mutter. Dann hatte sie sich durch Elias ablenken lassen, als der noch vor dem Anschnitt des schottischen Presssacks ein paar festliche Worte schwingen wollte, und sein warmer, tröstlicher Bariton stimmte sie um, obwohl das, was er gesagt hatte, völlig überflüssig gewesen war: Sie erlebten heute Nacht etwas, was nur alle tausend Jahre in unserer abendländischen Zeitrechnung möglich sei, hub er an, nämlich ein dreifaches Zeitspannen-Scharnier: Ein Jahr gehe seinem Ende zu, ein neues breche an, ein Jahrhundert laufe aus, ein neues stehe bevor, ein Jahrtausend sei vergangen und »freudetrunken« betrete man das nächste. Man hüpfe über drei Zeitmarken hinweg in ein neues Epochengefüge, das vom ersten Jänner 2000 an gelte. »Ein verdichteter Moment Zeit«, unterstrich er und Rotraud hatte ihm in ihrer bäurisch dummen Art mit »richtig, richtig« beigepflichtet. Aber dann hatte er, in seiner fast schon vorhersehbaren Manier, alles umzudrehen und auf den Kopf zu stellen, sogleich verkündet, dass man »in Wahrheit« doch eigentlich das erste Jahr des neuen Jahrhunderts sowie des neuen Jahrtausends schon abschließe, noch bevor man es im Kalender finden könne.
    An diesem Punkt hatte Gretl nicht mehr umhin können, endlich ihren Gatten aufzufordern: »Eli, dann schließ doch noch schnell, wie du es versprochen hast, im alten Jahr die Niederschrift deiner Jugenderinnerungen ab! Vielleicht kommst du dann weiter.« Und während Elias, einmal unterbrochen, wieder nach dem Faden suchen musste, war auch sie, Clementine, zu Wort gekommen: »Hört mir zu, meine Lieben: Eure waschechte Wienerin Clementine Katharina Holberg, geborene Kohlgruber, wird ungeachtet dieser spitzfindigen Zeitdiskussion am morgigen Tag ihren neunzigsten Geburtstag im Kreis ihrer Familie und ihrer lieben Freunde, alle noch in blendender Verfassung …« Da hatte sie einhalten müssen. Die Luft war ihr ausgegangen. Und Rotraud war sogleich aufgesprungen, um ihr – wie stets mit der ihr eigenen tölpelhaften Eile – ein Glas Wasser geradezu in den Mund zu schütten. Rotrauds ewig aufmunterndes Lachen und Kichern und Glucksen ging ihr längst auf die Nerven. Wozu nur diese zwanghafte Heiterkeit? Damit war doch die düster-verbissene Physiognomie von Treugott auch nicht mehr aufzuhellen, falls sie das bezwecken wollte. So ein trübseliges G’frieß … Nicht Rotrauds Wasserglas jedoch, sondern der chilenische Champagner hinterher belebte Clementine wieder und ließ sie aufatmen. »Tuts angsambl!«, rief sie mehrmals, animierend, mit erhobenem Kelch dem Kreis um den Tisch herum zu. Selbst Benny und Sarah Krohn, die keinen Alkohol anrührten, hatten Toleranz gemimt und zustimmend an ihrem Mineralwasser genippt.
    Etwas später hätte wenig gefehlt, und eine Silvesterstimmung wie in Aumühl bei Wien wäre aufgekommen. Es war nicht zu übersehen gewesen, welche Mengen Alkohol sich Treugott in die Kehle gekippt hatte, vor allem von dem teuren Whisky des Psychiaters, um bald darauf seinen Fidel zu imitieren, immer mit denselben blödsinnigen Sprüchen. »Vaterland oder Tod!« und neuerdings auch mit dem entsetzlichen »Ernst machen, umbringen«. Wo hat er das her? Nur ein Veteran zahlloser Ausschweifungen wie Elias Königsberg konnte da noch mithalten. Ein Fass ohne Boden war er – ein Psychoanalytiker eben! Aber ab Mitternacht hatte sie ihn nicht mehr verstehen können: Wieso musste Elias damit beginnen, den Presssack mit ihrem Unbewussten zu vergleichen – und dieses wiederum mit den zerquetschten Schafsinnereien und dem Haferbrei im verschnürten Lammmagen? Ging das nicht etwas zu weit? Unappetitlich bis zum Gehtnichtmehr war es sicherlich gewesen, und so einer nennt sich Seelenarzt! Da schimmerte die jüdische Natur durch. »Nicht mein Unbewusstes, deines!«, hatte sie ihm in Notwehr nur zurufen können.
    Hinter den hohen, von weißen Blütendolden überquellenden Spiersträuchern entdeckte sie Quique. Was treibt der Wasserschädel dort? Der könnte mir helfen. Sie rief ihn, er

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