Scherbengericht: Roman (German Edition)
Einsturz zu bringen.
Denn was erfuhr sie aus Olgas Erzählungen? Dass die Mezzosopranistin F. (welch herrlicher Oktavian!) eine unverfrorene Lesbierin gewesen sei; dass der goldkehlige Tenor D. (ein betörender Radames) aus dem Mund gestunken habe; dass der Dirigent K. (ein weißhaariger Grandseigneur) bei den Ballettratten als enthemmter Hinternzwicker verschrien war; dass sie die Zoten nicht wiedergeben könne, die Benno Kusche bei einer Papageno-Probe der göttlichen Mozartmusik unterlegt habe; und dass der greise Sir Thomas Beecham auf längere Zwischenakte gedrängt habe, damit er in Ruhe die Windeln wechseln konnte. Als sie an einem heißen Sommertag in der kühlen Dämmerung der russisch-orthodoxen Kirche knieten, flüsterte Olga ihr zu: »Am liebsten würde ich einfach nur noch ruhen und vergessen. Du aber bringst mich immer wieder dazu, mich mit meiner Vergangenheit zu befassen – und dann erscheint mir mein gegenwärtiges Leben nur als ein Ableben.«
Merkwürdig! Das hatte ihr der Schorsch auch einmal, fast gleichlautend, aber in einem umgekehrten Sinn geschrieben: Er befasse sich viel lieber mit der Vergangenheit, da sei man noch das eigene Selbst gewesen, während jetzt nur noch das »Ableben« vor einem liege. Immer öfter verbringe er seine Wochenenden im Unfallkrankenhaus, fern der zänkischen Ehefrau und der bockigen Backfisch-Tochter; nur in der Vergangenheit lebe er auf, die Zukunft bedeute ihm nichts mehr. Er sei, obwohl kein Patient, zu einem Krankenhausbewohner geworden. Es komme allerdings häufig vor, dass er das nächtliche Sinnieren und Briefeschreiben unterbrechen müsse, besonders an den Samstagen, wenn die Besoffenen verunglückten. »Musste eben unterbrechen, um ein Loch im Magen zuzunähen. Aber diesen Gaunern und Pülchern ist ja nicht zu helfen.« Oft lege er, wenn er an sie denke und ihr schreibe, seine Lieblingsplatte auf, die Lara-Melodie aus dem Film Dr. Schiwago. »Am liebsten sind mir die Kandidaten«, bekannte er, »die gegen eine Mauer fahren und gleich hin sind. Denen brauche ich nur den Totenschein ausstellen.« Wie in einer Fernsehserie, sah sie den unermüdlichen und feschen Notarzt vor sich.
Rotrauds nervöses, zwanghaftes Lachen, das Geklirr von Glas und Porzellan drangen zu ihr herein. Vorhin, zum Frühstück, war nur Gretl Königsberg erschienen und hatte eine Tasse starken Kaffee und zwei Brombeermarmeladebrote für ihren »schreibenden Elias« mitgenommen. Dabei leierte sie ihre ewige Klage herunter: »Zu allem Unglück lebten in Fürth auch die Wassermanns und die Kissingers … Je weiter sich Eli in die Vergangenheit zurückversetzt, desto schwerer fällt es ihm, zu verstehen, was danach mit unseren Familien geschehen ist, und er kommt nicht damit weiter. Es ist, als würde er in einen Traum versinken, aus dem er nicht mehr erwachen will.«
Wieder ein Stichwort für Schorsch, bei dem es noch viel schlimmer geworden war. Der schwärmte in seinen Briefen unverhohlen vom Schlafen und Träumen und hatte ihr geschrieben, wie schmerzhaft das Erwachen sei, wie schwer und immer schwerer es ihm falle, in diesem »neuen« Österreich. Einmal, so schilderte er es ihr, habe er von ihr geträumt: Sie sei jungmädchenhaft und leicht bekleidet am Fuß seines Bettes erschienen, nachdem sie anscheinend durch ein Fenster in sein Schlafzimmer gestiegen sei. Er habe sich im Bett aufgestützt und zu ihr gesagt: »Ich weiß, du bist eine Frau, aber ich war ein Mann.«
Ein Wiedersehen, die Scheidung, ein Rückzug ins Tessin, das alles war von beiden in ihrer Korrespondenz erwogen worden. Manchmal schwelgten sie, ungeachtet ihres Alters, in kinematografischen Szenarien. Dann wieder war Schorsch zusammengebrochen, beklagte sich über seinen Alkoholkonsum (er habe immer eine Flasche Weinbrand im Sprechzimmer) und erging sich in selbstzerfleischenden Bildern: Er sei eben doch nur ein Göpelpferd, das unentwegt im Kreise geht und Wasser schöpft für Frau und Tochter (dem Backfisch habe man inzwischen schizoides Verhalten diagnostiziert). Ein rundum verpfuschtes Leben! Oder es meldete sich unvermittelt ein lebhafter Schorsch aus Bonn, der ihr geradezu euphorisch berichtete, dass er sich mit einer neuen Methode der Beinamputation vertraut gemacht habe und geriet dabei in unappetitliche chirurgische Details. Die Reichsdeutschen seien trotz allem, was man ihnen angetan habe, den Österreichern voraus. Wenn wir doch die Ostmark geblieben wären. Dann, noch melancholischer: In letzter Zeit
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