Scherbengericht: Roman (German Edition)
schien unentschlossen, wollte wohl verschwinden, aber sie befahl ihm sehr bestimmt, heranzukommen. Er näherte sich zögernd dem Fenster, mit eingezogenem Kopf, als wollte er sich unsichtbar machen. Clementine zeigte ihm die Hand mit dem Ring.
»Ich kann ihn nicht mehr abstreifen. Mein Fingerknöchel ist einfach zu dick geworden, und das bildet sich in meinem Alter nicht mehr zurück. Du hast doch sicherlich unter deinem Werkzeug eine Kneifzange. Bitte schneide mir den Ring hier auf.« Quique schaute ihr scharf ins Gesicht. Sie bemerkte wieder, dass er leicht schielte. Er wollte wohl prüfen, wie ernst er diesen ungewöhnlichen Wunsch zu nehmen habe, oder ob sie ihm nur eine Falle stellen wolle.
»Na geh doch schon, hilf mir!«, forderte ihn Clementine auf. »Nur keine Sorge: Das ist schließlich mein Ehering!«
Quique verschwand, und nach ein paar Minuten kam er mit einer kleinen Beißzange aus seinem Elektriker-Zubehör zurück. Er benutzte das Werkzeug in der Regel, um Kupferdraht und Kabel zu zerschneiden. Clementine drückte ihren Ringfinger auf die Fensterbank, Quique bekam den altmodisch breiten Ring mit der Zange zu fassen, er musste sich etwas anstrengen und sein Gesicht rötete sich, dann klickte es, und das Gold war durchtrennt. Clementine hob ihre Hand und drehte den Ring an der Schnittstelle nach innen. Sie wollte ihn loben. »Vielen Dank, wie geschickt du das gemacht hast, mit deinen Mozart-Patschhanderln.« Da unterbrach sie die heisere, polternde Stimme Treugotts. »Du elender, verschissener Dreckskerl!« Urplötzlich war er hinter der Hausecke hervorgestürzt und wollte schon mit hochgerissener Krücke auf Quique einschlagen; aber der brachte sich mit wenigen Sprüngen unter dem Lindenbaum in Sicherheit und lachte von dort hämisch herüber. »Ich werd Ernst machen, umbringen könnt ich dich!«, keuchte Treugott ihm hilflos drohend nach.
Clementine war so erschrocken, dass sie sich wieder in ihren Sessel hatte zurückfallen lassen. »Du Grobian, er hat mir doch nur geholfen, und ich hatte ihn darum gebeten«, versuchte sie Treugott zu erklären. »Was ist denn in dich gefahren?« Der massige Umriss des Bauern stand vor ihr und füllte das Fenster.
»Ach, Clementine, wenn Sie wüssten …« Er sprach schwer atmend, in abgerissenen Sätzen. »Es hat überhaupt nichts mit Ihnen zu tun, sondern …« Aber da brauste schon das eifersüchtige Eheweib heran, unterbrach seine Beichte, riss ihn vom Fenster weg und schubste ihn zum Grill.
Auf dem Lagler-Hof ist heuer der Teufel los, resümierte sie. Treugott war nicht wiederzuerkennen, mehr und mehr vom Kommunismus zerfressen, und Rotraud erhitzt in ihrem enthemmten Klimakterium. Und Elias, wie er gestern durch den Schnee gewandelt war – der war nun auch durchgedreht und begann wohl immer mehr seinen Klienten zu gleichen. Jetzt fehlte ihr nur noch Katha, dieser verzogene Prinzessinen-Fratz mit seinen Gorillas, Indianern und Walfischen. Aber die Linde blüht, sie ist keine Zimmerlinde, und von dort oben hat Olga mir zugewunken.
Nach dem Putsch der Bolschewiken war es für Olgas zarenfreundliche Musikerfamilie in Russland lebensgefährlich geworden. Olga, noch in Petersburg geboren und gerade zwei Jahre alt, musste mit ihren Eltern über Odessa und Istanbul bis Argentinien auswandern. Ihr Leben lang war sie bemüht gewesen, Spanisch mit einem nachdrücklich osteuropäischen Akzent zu sprechen. Klein, füllig, blond, mit rundem Gesicht, geläufiger Gurgel und einem bildungslastigen Elternhaus war sie im Chor des Teatro Colón von keinem geringeren als Erich Kleiber entdeckt worden. Unter der Protektion des aus Berlin emigrierten Maestro avancierte sie zur obligaten Besetzung der Koloratur-Partien: Mozarts Susanne und Zerline, Despina und Papagena, das Ännchen im Freischütz, Musetta in der Bohème, Zerbinetta in Ariadne auf Naxos, sogar der Waldvogel in Wagners Siegfried … Und alle diese Rollen zu einer einzigen verschmolzen – das war Olga. Eine, die in komischer Verzweiflung mit ihren Kulleraugen zur Decke blickt, meist etwas verschmitzt lächelt, sich horchend ein wenig vorbeugt, weil man nach ihren Diensten rufen könnte, häufig mit beiden Händen vor dem Schoß an einem wirklichen oder imaginären Schürzchen zupfend, sich in hopsenden Trippelschritten bewegend, weil sie behend und knusprig zu erscheinen hat, dabei aber die Bühne nicht beherrschen sollte. Schäkern war ihr Schicksal.
Clementine hatte viele Aufführungen mit ihr erlebt, ohne
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