Scherbengericht: Roman (German Edition)
ihr dabei mehr Beachtung zu schenken als einem bewährten und gut eingesetzten Ensemblemitglied. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere hatte der Musikkritiker-Papst von Buenos Aires die Soubrette zu »unserer Emmy Loose« gekürt – aber den Sprung zurück über den Ozean, eine Karriere in Europa, hatte sie nicht mehr geschafft, auch nicht als der Krieg zu Ende gegangen war. Im Gegenteil: Olga Rebikoff war beinahe von einer Opernsaison zur nächsten aus der Besetzungsliste des Teatro Colón verschwunden. Clementine konnte sich nicht mehr erinnern, ob ihr das damals gleich aufgefallen war, und ob sie jemanden nach der Verschwundenen gefragt hatte. Die Gründe erfuhr sie einige Jahre später von Olga selbst, im hurtig fließenden Deutsch der Osteuropäer, durchmischt mit spanischen und russischen Ausdrücken. Sie sei unaufhaltsam dicker geworden (»und das bei meiner Statur!«), erzählte ihr Olga betrübt, und ihre Stimme dabei immer schwächer. Da habe sie es als grotesk empfunden, eine halbakrobatische Esmeralda oder die minderjährige Tochter des Herrn von Faninal zu simulieren – sie, eine Dicke, die von Don Giovanni umworben wird … »Njet, nitschewo! Wird ganz schnell Tragädie und Leite lachen!« Und in winzige Rollen abzusteigen, etwa zur Frau aus dem Volke, die im Chor hervortritt und zwei Wörter ausstößt, oder zur Zofe, die aus dem Hintergrund in ein leidenschaftliches Duett hineinpiepsen muss – da hätte sie sich gefühlt wie die Pompadour auf dem Straßenstrich. Nein, dankescheen!
Kennengelernt hatten sich Clementine und Olga erst im Haus von Maria Eugenia Erázuriz de Holberg, einer musikliebenden Dame aus dem wohlhabenden Zweig des Holberg-Clans, die zu den Förderinnen einer Gesangsschule gehörte. In ihrem Salon war Clementine zum ersten Mal Olga begegnet und hatte sofort, geradezu besessen, damit begonnen, diesen Kontakt zu vertiefen. Sie war begierig auf Anekdoten und Bühnentratsch, süchtig nach einer Freundin, die ein halbes Leben vor und hinter den Kulissen der Opernwelt verbracht hatte. Aber die einstige Sängerin – früh verwitwet, ohne Familie, ohne alten Liebhaber – schien sich nur ungern an ihre frühere Existenz erinnern zu wollen. Meist verhielt sie sich mürrisch, ja misanthropisch, und Clementine musste sich bemühen, sie aufzuheitern. Nur geizig bemessen gab die Umworbene etwas von dem preis, wonach es Clementine so dürstete. Sie trafen sich mehrmals in der Woche; Clementine begleitete Olga sogar in den russisch-orthodoxen Gottesdienst, sie reisten gemeinsam nach Rom, Madrid und Paris, und oft zu kurzen Schlammkuren ins Landesinnere, denn Olga litt an Psoriasis. Und wenn Olga dann, dunkel glänzend wie ein Schokoladeschweinchen und erweicht vom heißen Schlamm, eine Anekdote ankündigte, dann konnte sie damit erzwingen, dass Clementine ihren Ekel überwand und sich ebenfalls in die dampfende Kuhle legte. Mit den Jahren hatte sich ein Verhältnis von Herrin und Gesellschafterin eingespielt – mit einer dienst- und quälbaren Begleiterin freilich, denn Clementine war Olga hörig geworden, auch wenn sie, im Grunde ganz nach Dienstbotenart, gelegentlich mit kleinen Bosheiten aufbegehrte. Dann konnte Olga tagelang verstockt schweigen und ihr, selbst wenn sie zusammen im Kaffeehaus saßen, nur mit Finger- und Kopfbewegungen ihre Wünsche mitteilen. Und wie Clementine darunter litt, wie sie sich in einen wahren Selbsthass hineinsteigerte, nur weil sie sich von dieser einstigen – na ja – Primadonna so erniedrigen ließ. Sie fühlte das heute noch und musste es gleich unterdrücken, weil Olga sie gerade erst so scheinheilig dazu ermuntert hatte, ihr zuliebe und an ihrer Seite den nächsten Schritt zu tun.
Während ihrer dreißigjährigen Opernkarriere hatte sich Olga viele Capricen angewöhnt, und dazu waren noch Allüren gekommen, die sie bei wirklichen, bei internationalen Primadonnen beobachtet hatte. Kostproben gab sie wohldosiert an Clementine weiter. Ja, so sind sie eben, die großen Künstlernaturen, entschuldigte Clementine die Grausamkeiten ihrer Freundin, und versuchte sich damit über manche bittere Stunde hinwegzutrösten. Aber alles, was Olga ihr über ihre berühmten Kollegen preisgab, was sie von Probenkrach und Aufführungspannen, von Dirigentenlaunen, patzenden Musikern, lahmenden Tänzern und durchgeknallten Regisseuren zu berichten wusste, kratzte an Clementines hehrem Kulturbild, unterhöhlte ihre Vorstellungen von der geliebten Opernwelt, drohte sie zum
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