Scherbengericht: Roman (German Edition)
reichen, Zerline!«
Dazu wäre nun auch keine Gelegenheit mehr gewesen. Die Gestalt über der Baumkrone war – vielleicht enttäuscht – verblasst, verschwunden; nur mehr die steilen, sonnenbeleuchteten Zacken des Piltriquitrón ragten in den Himmel. Aber sie hatte Olga gesehen – und gehört –, daran war nicht zu zweifeln, und die Freundin musste auch ihre Entschuldigung vernommen und eingesehen haben. Abtreten – mein Gott, wer fände sich mit neunzig nicht damit ab, man ist ja kaum mehr da, wurde nur versehentlich zurückgelassen und noch nicht abgeholt. Aber bitte nicht an meinem runden Geburtstag, nicht so kurz vor der Jubiläumsfeier, wenn die letzten Kräfte und Säfte sich noch einmal sammeln, um eine komplette Person und volle Gegenwärtigkeit der Familie und den Freunden zu bieten. Trotzdem, wie herrlich zu wissen, dass einen da oben schon die Nachtigall und Freundin erwartet. Hedwig Holzapfel mit ihrer Trauermiene ist ihr nie erschienen – und Schorsch erst recht nicht, dieser Drückeberger. Clementine zerrte und drehte an ihrem Ehering, aber der ließ sich leider nicht mehr über das gichtig angeschwollene Fingergelenk schieben.
Warum nur habe ich vorhin die Geschichte mit dem Schorsch erwähnt? Ist das nicht ein Vorwand gewesen, eine Erfindung fast, nur um mich noch ein bisschen länger ans Leben zu klammern? Nein, das fühlte sie, so war es nicht! Man kann sich eben nicht einfach davonmachen, wenn man sich über seine tiefsten und innigsten Gefühle noch nicht endgültige Klarheit verschafft hat. Zuerst soll man »reinen Tisch« machen, das war ein oft gehörtes Vaterwort. Aus dem Munde eines Schankwirts klang das zwar nicht metaphorisch, aber er meinte es doch in einem übertragenen Sinn. Als die Tochter ihm von ihren Heiratsabsichten und der irgendwann erforderlichen Auswanderung nach Argentinien erzählte, hatte er nur gesagt: »Dann musst du aber mit dem Schorsch reinen Tisch machen.« Da glaubte der Vater wohl, das ginge so einfach – wie mit einem feuchten Lappen die Gulasch- und Bierflecken von der Holzplatte abwischen.
An die dreißig Jahre lang hatte sie das ja selbst geglaubt: Ich habe dem Schorsch reinen Wein eingeschenkt – auch so ein oft wiederholtes Vaterwort –, ich habe in meinem Innern reinen Tisch gemacht. Bis Jahrzehnte später sein erster Brief in Buenos Aires eintraf.
Er habe ihre Adresse vom Bruder bekommen, dem Anton Kohlgruber vom Aumühler Gasthof. Zuletzt habe er sich, berichtete Schorsch, auf Unfallchirurgie spezialisiert, aber gleich nach dem Krieg habe für ihn, wegen seiner vorherigen politischen Betätigung, zunächst noch das Berufsverbot gegolten. Außerdem habe er sich in einem elenden Lazarett in Galizien mit dem defekten Röntgengerät zwei Finger verbrannt. Er habe geheiratet, habe eine Tochter. Und, etwas unvermittelt: Er besitze immer noch die Schallplatte, die er auch ihr geschenkt habe. Ob sie sich noch daran erinnere? Ein Tango sei es gewesen, gesungen von Richard Tauber. Ausgerechnet Tango – solche Musik müsse sie wohl tagtäglich da unten in Argentinien hören.
Und wie sich Clementine erinnerte! Sie summte mit wiegendem Kopf: »Schnell sind zwei Menschen geschieden, man verreist nach dem Süden, man treibt Sport und vergisst …« Und lauter und lebhafter dann den Refrain: »Behalten Sie mich in Erinnerung, schöne Frau, es war so schön, so wunderschön …«
»Die größte der Verführungen«, hatte sie damals geantwortet – überrascht von der Aufregung, die Schorsch mit seinem Brief in ihr ausgelöst hatte –, »ist die, die uns über die verflossene Zeit in unserem Leben hinwegzutäuschen verspricht, und die uns in einen Zustand versetzt, in dem die Jahrzehnte verblassen und das Allerliebste wieder wie einst vor uns zu stehen scheint.« Etwas von dem einstigen Aufruhr rumorte immer noch in ihr. Besonders an ihren Geburtstagen. Darum musste sie Olgas freundschaftliche Einladung abschlagen oder auf später verschieben – noch hatte sie mit Schorsch nicht reinen Tisch gemacht.
Nun aber hielt Clementine es nicht länger aus, so in Gedanken versunken am Morgen ihres Geburtstags herumzusitzen. Heftig umklammerte sie ihren Stock, stemmte sich aus dem Korbsessel, wankte bis zur Fensterbank und lehnte sich dort an. Da strich doch schon wieder, wie gestern beim Frühstück in der Küche, ein Geruch von gebratenem Fleisch herein und vermischte sich unerfreulich mit dem Duft der Lindenblüten. Müssen diese Bauern denn ständig braten und
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