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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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verwurzelt, in Gesang und Geruch verbündelt, Mapudungun parlierend, atmen und singen sie im Kultrún -Rhythmus, trinken Cola und Gingerale. Mensch, Jones, suche er sich doch eine andere Gemeinde! Las Almas in der patagonischen Einöde könne sie ihm nur raten, ja das könne er von ihr als Lehen bekommen.
    Sie musste nach dem letzten »Frohes Neujahr«-Zuprosten befürchten, dass alle Äderchen in den roten Backen des Ingenieurs platzen könnten. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Wer sind Sie?«, hatte sie ihn fast schreiend bei der nun ohrenbetäubenden Tanzmusik gefragt, »ich habe Sie enttarnt, Sie sind der fiese Roberto Williams, der macht hier auf Bürgermeister oder so …« Der Elende aber floh vor ihr, und sprang, das mollige Eheweib mit sich reißend, zum ausgelassenen Jubeltanz auf die Tanzfläche. Katha wollte ihnen nachsetzen, aber es gelang Martin, die bereits Erschöpfte zurückzuhalten und zum Fortgehen zu bewegen. Sonst würde es morgen zu keinem Wiedersehen mit Gabriel kommen.
    Nach Mitternacht saß Pa am Fußende ihres Bettes. Sie war nur unter der Bedingung auf ihr Zimmer gegangen, dass er noch eine Weile bei ihr bleibe. Sie schloss die Augen, simulierte zu schlafen, aber sobald ihr eine Bewegung verriet, dass er aufstehen wollte, tippte sie ihn mit den Fußspitzen an und flüsterte: »Bleib doch noch, Pa.« Mehrmals. So bemerkte sie, dass er sein Heft aus der Brusttasche zog und auf den Knien mit seinen wohl unumgänglichen Tagebuchnotizen begann. Wie gut ihr das tat. So gut, wie wenn er an seinem chaotischen Schreibtisch saß, unter einem Lichtkegel, und sie, im Sofa vergraben, schläfrig, nachdenklich, ihn einfach dort wusste; wie heimelig, und wie traurig, dass dann die Mutter nicht mehr »hereinschaute«, um sie zum Zubettgehen zu überreden. Die Bewegung der schreibenden Hand setzte sich in einem kaum merklichen Beben auf dem Bettrand fort. Sie empfand es wie ein sachtes Einwiegen. Es erfüllte sie mit einer solchen Schlafhingabe, dass sie tief aufseufzte. Der Vater deutete es wohl als Schmerz, denn er strich und drückte ihre Füße unter der Decke und sagte leise: »›Im Schlaf wird alles gut‹, meinte deine Oma immer, wenn sie mich einst mit irgendeinem Wehwehchen zu Bett brachte.« »Und beim Erwachen?«, wollte sie seine Worte fortspinnen, aber sank schon in den Schlaf.

8
NOCHMALS CLEMENTINE
    »Clementine!«
    Das vernahm sie doch ganz deutlich, obwohl es eine leise Frauenstimme war, die ihren Namen rief. Aber die Stimme trug weit: Sie kam von draußen und wie aus der Höhe. Bin ich schon wieder im Sessel eingenickt? Sie hob den Kopf und blickte durch das offene Fenster ihres Zimmers auf den Lindenbaum. In Wellen wehte Blütenduft herein. »Breit in ihrem Frauenduft steht eine Linde …«, hatte ihr verehrter Josef Weinheber gedichtet. »Clementine!«, erklang es nun wieder – und diesmal gewahrte sie die Gestalt über der Laubkrone. Ja, ohne Zweifel und unverkennbar schwebte dort oben Olga Rebikoff. Sie trug immer noch das graue Chanel-Kostüm, das die Fülle ihrer Figur so unvorteilhaft hervortreten ließ und das sie zuletzt getragen hatte, als sie vor sieben Jahren auf dem Trottoir in der Nähe ihrer Wohnung zusammengebrochen war. Herzversagen. Na, bei ihrem Übergewicht.
    Und nun winkte Olga Rebikoff ihr einladend zu, als wäre nichts gewesen. »Komm mit mir«, musste Clementine hören, »komm schon, es ist an der Zeit.«
    »Das weiß ich doch«, erwiderte sie. Wie gut man einander trotz der Entfernung hören konnte! »Ich würde schon sehr gerne mitgehen, am liebsten sofort, glaub mir’s, aber heute muss ich noch meinen Geburtstag feiern, meinen neunzigsten und letzten, und, stell dir vor, ich hab das dritte Jahrtausend erreicht. Mein Sohn Martin wird kommen, und meine Enkelkinder Gabriel und Katharina auch. An so einem Tag kann ich mich nicht einfach grußlos davonmachen; das könnte ich Elias und Treugott und Siegmund nicht antun. Etwas Besonderes liegt in der Luft heute, ich darf sie nicht allein lassen. Und vor allem – es gibt da ja noch die Sache mit Schorsch zu klären, du weißt es eh … Aber hinterher, wenn das alles abgehakt ist, komme ich bestimmt. Und du, sing derweil schön da oben weiter mit deinem leichten Sopran. Ich höre nicht auf, dich zu hören, wie früher in der Oper, liebe Soubrette – als Amor, Adele, Susanne, Musetta, Sophie, Fiakermilli …«
    Dann fiel es ihr noch ein, und sie fügte augenzwinkernd hinzu: »Noch kann ich dir die Hand nicht

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