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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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seinem Suzuki Samurai. Warum verspätete sich Enzo? Das schmale Felsplateau, hoch oben am Westhang des Piltriquitrón, lag noch im Bergschatten, bald aber würde die Sonne kommen. Enzo Cirigliano, der Fluglehrer und Bevollmächtigte des Fremdenverkehrsamts von Quemquemtréu, Enkel des einstigen Fremdenverkehrsleiters der Ortschaft, Fritz Cirigliano, hatte die Thermik zu prüfen und zu entscheiden, ob man fliegen durfte. Es blieb keinem selbst überlassen, in einem vermeintlich tragenden Aufwind über Land zu gleiten oder sich lieber an den Felswänden oder auf dem Talboden das Genick zu brechen. Freilich, bei Gabriel wäre eine solche Aufsicht nicht nötig gewesen; er besaß doch den SOPI , den begehrten Sonderpilotenschein für Paragleitflieger, am Attersee erworben, in Österreich, in der Europäischen Gemeinschaft, in der Ersten Welt. Und sicher verstand er mehr von Aerodynamik und Aufwind, von Fluggewicht und Windmessung als Enzo, der das nur in der Praxis gelernt hatte, wie einer von den vielen patagonischen Selfmademen.
    Vor einer Stunde war Gabriel in seinem kleinen, geländetüchtigen Fahrzeug heraufgehoppelt gekommen. Er hatte dann den Gleitschirm ausgebreitet, Seile, Verschlüsse und Gurte geordnet und die Instrumente angebracht. Es war alles bereit für den Start und den Anflug auf den Tilo-Hof. Doch es ging auf Mittag zu und von Enzo keine Spur.
    »Gibt es denn überhaupt irgendetwas auf dieser Welt, das du wirklich willst?«, hatte ihn der Vater zugespitzt ironisch gefragt – nachdem er innerhalb von vier Semestern in Buenos Aires zuerst Literaturwissenschaft, dann Philosophie, bald darauf Politologie und schließlich Soziologie belegt und alsbald wieder abgebrochen hatte. Nebenher hatte er einige Short Storys geschrieben, hatte Collagen geschnipselt und sowohl viel Tennis – mit einer Freundin Kathas – wie auch die Gitarre (für eben diese Freundin, im Buddah-Sitz neben ihr auf dem Bett) gespielt. Der Vater hatte ihm einen Job bei der Stiftung Boden und Frieden vermitteln wollen. »Da hast du eine Chance, endlich der real existierenden Welt ins Auge zu schauen« – womit das Angebot für den Sohn auf Anhieb inakzeptabel wurde. Was bildete der Alte sich ein – dass er Verwalter der Realität sei? Diese Wirklichkeit würde er sich selbst suchen und brach kurzerhand zu einem Trip durch Rajasthan, Himachal Pradesh und Nepal auf. Abgemagert und drogenkundig war er heimgekehrt, wollte nur ein paar Tage – oder Wochen – mit Kopfhörern und einem Joint zwischen den Lippen im verdunkelten Zimmer liegen – nur Kurt Cobain und seine Nirvana hören, bis ihm aufging, dass er nicht »ausgebrannt« war, wie der Musiker, sondern eher daran war, sich aus dem Leben »auszublenden«.
    »Irgendetwas, das du wirklich willst …« Der Vater hatte die Frage wiederholt, hatte sie ihm durch die aufgerissene Tür in sein Zimmer geschrien, hatte ihn herausgefordert. »Alter, dir werde ich’s zeigen!« – und vom Bett her hatte er aus der Hüfte zurückgeschossen: »Ja, ich will echt etwas Reales auf dieser Welt! Ich will Paragleiten lernen am Attersee!« Doch der Alte hatte zu seiner Überraschung akzeptiert – und bezahlt. Katha war von seinem Wunsch begeistert, die Mutter dagegen gewesen. Es sei doch sinnlos, so viel Geld für einen so lebensgefährlichen Hobbysport auszugeben! Aber darauf kam Oma Clementines Widerspruch: Das sei doch ein »schneidiger« Entschluss und es zeige sich der »natürliche Drang seines Blutes«, sich in »unserer alten Heimat« weiterzubilden. Natürlich kenne sie den See, »wie jedes Kind in Österreich«. Sie habe auch ein Jugendlager mit Zelten, Gesang am Feuer und Geländespielen dort verbracht. Mit einem Seitenblick auf die Mutter hatte sie Gabriel allerdings spaßhaft gewarnt: »Pass mir nur auf, dass du nicht in den See hineinplumpst, der ist saukalt, sage ich dir!« Und dabei hatte sie nach fünfundsiebzig Jahren noch glaubwürdig ein Frösteln vorgetäuscht. Sie hatte ja schon die Asienreise des Enkelsohns unterstützt. Als die Mutter Gabriel dazu überreden wollte, vorher die Verwandten in Israel zu besuchen – »Vielleicht gefällt es dir bei ihnen« –, war Clementine wieder mit einer überraschenden Begründung dazwischengefahren: »Lasst ihn doch! Indien liegt uns im Blut, es ist die Wiege der Arier.«
    Diese verdammte Silvesterfeier Enzos! Die hat sich wohl bis in den Morgen hingezogen. Gabriel holte ein Buch aus dem Handschuhfach, ein Quartbändchen, das der Meister

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