Scherbengericht: Roman (German Edition)
Verteilung er, unterstützt von seinen beiden Frauen, sofort begann. Dankesgemurmel war um den Tisch gegangen, vermischt mit verlegenen Sätzen, in denen dem Meister seine Vitalität bezeugt und ihm noch ein langes Leben vorausgesagt wurde. Einige blätterten sogleich neugierig in der Broschüre; Illustrationen aber enthielt sie nicht.
Die Sonne hatte die Felsplatte erreicht. Gabriel kurbelte das Fenster herunter. Er hatte das Traktat schon angeödet wegstecken wollen – doch da folgte etwas über die europäische Vorgeschichte der Futterer und der Schaler, und sein Interesse wurde wieder wach. Ob Großvater Hans tatsächlich Futterer oder nicht doch eher Fütterer geheißen habe – so berichtete der Nachfahr und Meister –, sei durch Dokumente nicht zu belegen. Nur so viel: Der Ahn ist um 1900 in Ascona in der Aussteigerkolonie Monte Verità als »Hans, unser neuer Stallknecht« registriert worden. Seine Herkunft (aus dem Komitat Békés, wenn nicht gar aus den Weiten der Puszta) blieb im Dunkeln. Vielleicht verdankte der Großvater seinen Nachnamen einfach den Aufgaben im Pferdestall. Hier galt umgekehrt: »Omen atque nomen.«
Aber der helle Kopf des Ahns habe bald am Haferausschütten kein Genügen gehabt. Er habe Interesse an den Angeboten der Kolonie gezeigt, am eurhythmischen Reigentanz, an Lichtbad und Nudismus, und im Gegenzug die vegetarische und salzlose Kost, das Baden in Gletscherwasser und noch schlimmere Abhärtungspraktiken in Kauf genommen. Und nicht allein das, der Großvater habe auch Gefallen an der bildenden Kunst gefunden. Er habe sich mit dem steirischen Maler Karl Wilhelm Diefenbach angefreundet; diesem habe er talentvoll beim Aktmalen in der Kolonie sekundiert. Aber man beachte fürs Kommende: Sein Abgott sei ein gewisser Gusto Gräser geworden, eine Diogenes-Gestalt in den Felsgrotten Asconas, ein Walderemit, ein prophetischer Sänger aus Siebenbürgen. Der pantheistische Barde feierte den nährenden Weltbaum, »der zweiget, dreiet, wirbeldreht, ha trilliert, sich trennt, sich paart, heiß-fleißig zusammenwandelwohnt im Sam, Urfreuds Paarheiterkeit …« Gabriel musste das ungläubig ein zweites Mal durchbuchstabieren. Ob H.-H. diesen Text nicht einfach selbst erfunden hatte?
Doch wenn Gusto Gräser für seinen Vorfahr den seraphischen Genius Loci von Monte Verità verkörpert habe, so sei in seinen Augen ein Dr. Otto Gross dessen luziferischer Gegenspieler gewesen: ein morphiumsüchtiger Schüler Sigmund Freuds aus Graz, der die versponnenen Aussteigergeister mit Schlagworten wie »sexuelle Revolution«, »Herrschaftsfreiheit« und »Anarchismus« aufgestört habe. »Der gesunde Zustand für den Neurotiker ist die sexuelle Immoralität« – so sei jener Dr. Gross aufgetreten, wie H.-H. Futterer aus den Erinnerungen seines Vaters Heinz zitierte. Dieser hatte in seinen jungen Jahren den Aufrührer noch kennengelernt. Er aber, H.-H. Futterer, verdanke merkwürdigerweise jenem teuflischen Widersacher seine argentinische Großmutter, Elvira Paz Aráoz.
Gabriel war verblüfft, sein Interesse wuchs. Aus seinem Tennisclub kannte er Mitglieder dieser alten Familie; gut möglich, dass auch der weitverzweigte Stammbaum der Holbergs eine Vernetzung mit den Paz Aráoz aufwies. War er etwa gar um vier Ecken mit Futterer verwandt? Und schon begann das Blaue Büchlein, den magdalenenhaften Lebenslauf der Ahnfrau auszubreiten. Sie sei zu Beginn des eben abgeschlossenen Jahrhunderts von Dr. Gross verführt worden, auf der Überfahrt von Le Havre nach Buenos Aires: Er, ein angehender Schiffsarzt auf Jungfernreise, sei ihr, einer jungfräulichen höheren Tochter, die mit den Eltern vom ersten Parisbesuch in die Heimat zurückkehrte, begegnet. Elvira habe sich verliebt und das kurze Abenteuer mit dem ersten Mann ihres Lebens nicht vergessen können – umso weniger, als ihre Eltern und Tanten davon erfahren und sie gezwungen hatten, dem Familienpfarrer sämtliche Einzelheiten zu beichten. Kaum großjährig geworden, habe Elvira sich entschlossen, die Spur des Mannes zu suchen, und sei in Monte Verità aufgetaucht, wo der Schiffsarzt an Land gegangen war. Mittlerweile aber sei er schon mit mehreren Damen der Kolonie liiert gewesen und habe sich um Elvira nicht mehr kümmern wollen. Trotzdem, sie sei geblieben, und ihre exotische und trostbedürftige Erscheinung habe mehrere Herren, darunter auch den Ahn Hans Futterer, unwiderstehlich in Bann gezogen. Als die Pampaschönheit schwanger geworden war, habe
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