Scherbengericht: Roman (German Edition)
sich allein Hans Futterer – ermuntert durch eine kulante Spende der anderen Liebhaber – bereit gezeigt, die ungewisse Vaterschaft auf sich zu nehmen. Elvira gebar in der Kolonie einen Jungen: Heinz, der künftige Vater des Meisters, hatte das Licht der Schweiz erblickt.
Gerade damals begannen profitmotivierte Adepten Monte Verità in ein Sanatorium für reiche Snobs umzuwandeln. Zu Lichtwiese und barfüßigem Taulaufen kam der Komfort eines Luxushotels. Damit aber konnten sich weder Dr. Gross noch Gusto Gräser noch der auf Malerei umgesattelte Stallknecht Futterer anfreunden. Im Trosse Gusto Gräsers seien Hans und Elvira mit Klein-Heinz im Arm zu Fuß bis nach München gewandert, berichtete das Blaue Büchlein. Dort habe sich der unruhige Opa wieder von dem Naturapostel getrennt und sei zu seinem Gegenspieler, zu Dr. Gross und seinen Anarchisten, übergetreten. Dessen »gott- und herrenlose Ideologie« habe der Großvater anfangs auch seinem Sohn Heinz einzutrichtern versucht. Widersinnig, denn gerade gegen das Eintrichtern von oben richtete sich ja der Kampf des abtrünnigen Freud-Schülers.
Da hatte mein Alter schon eine schlauere Masche!, dachte Gabriel. Dr. Martin Holberg hat mir unbedingte Toleranz aufgedrängt – vor allem, um sich selbst zu schützen und allen Vorwürfen zu entgehen. Die sanfte Tour. Du kannst ihn nicht zum Teufel jagen, sondern musst ihn bitte verstehen und ihn in seiner Art respektieren.
Im Blauen Büchlein wurde jetzt wenigstens erzählt. In den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete Vater Heinz noch an der Seite des Großvaters Hans in einer Druckerei. Sie walzten nicht nur bunte Plakatwerbung für Münchner und Nürnberger Kaufhäuser aus, sondern auch einfarbige Anschläge, Flugblätter und Pamphlete anarchistischer Splittergruppen. Bis die deutsche Geschichte zuschlug: Im April 1927 überfiel ein rabiater SA -Trupp die Werkstatt, zertrümmerte die Einrichtung und verletzte den Großvater schwer. Er starb kurz darauf im Krankenhaus, an den Knüppelhieben der Schlägerbande.
Rettung für Witwe Elvira und Sohn Heinz musste nun aus Argentinien erbeten werden. Die wohlhabenden Eltern Elviras in Buenos Aires erhielten einen verzweifelten Bittbrief der verlorenen Tochter. Erst nach langen familieninternen Verhandlungen kamen die heißersehnten Rufpassagen. Am La Plata wurde die gebrochene heimgekehrte ledige Mutter anfangs sehr zurückhaltend aufgenommen. Sobald ihr Sohn Heinz sich aber eingelebt hatte und man keine seelischen Vergiftungsfolgen durch Dr. Gross bei ihm feststellen konnte, verschafften ihm die Großeltern einen Verwalterposten auf einem ihrer fernen patagonischen Güter, und die Mutter musste ihn begleiten. Sprache und Bräuche, Reiten und Schafzucht, Scheren und Häuten – all das lernte der muntere Schweizer sehr rasch zu beherrschen und zu lieben, und schon im zweiten Jahr hatte er sich aus der benachbarten Kolonie der Waliser ein Mädchen von großer Frömmigkeit zur Frau genommen. Auch Elvira mochte diese Gwyneth sehr, die ihren Enkel Hans-Heinz zur Welt bringen würde. Das reine, vom päpstlichen Rom unbefleckte Christentum seiner Mutter sei prägend für ihn gewesen, hob H.-H. Futterer hervor.
Dann folgten zwei ergriffene Absätze über H.-H. Futterers Geburt. Aus jenem mythisch dunklen und leidenschaftlich bewegten Schoß seiner Herkunft sei er auf diese Welt gekommen, »in einer windgeschützten Vertiefung auf Patagoniens menschenarmem Hochland, in einem von Zypressen und Blumen eingefassten weißen Farmhaus mit grünen Fensterläden und rotem Wellblechdach – gleichsam auf dem Sammelgrund einer Schale«. Dort verbrachte er seine Kindheit, ohne dass sein Ureigenstes vom »Fremden« der Eltern vergewaltigt worden wäre. Jene verderbliche Praxis, von der sein Vater wusste, weil Dr. Gross sie angeprangert hatte. So seien die widersprüchlichen Keime von Ascona und München in sein Fleisch und Blut und in seinen kindlichen christlichen Geist gelegt worden, seien aufgegangen, und er habe den wahren Weg in diesem Leben, durch dieses Dickicht von Liebe und Gewalt, nach langem Meditieren finden können. Wie vorher schon der Vater, der schließlich die Weisheit des Einsiedlers Gusto Gräser wieder entdeckt habe.
Er schrieb: »Die Unterjochung des Kindes droht in jeder Familie und wirkt über den Tod der Eltern hinaus; es gilt, den Heilsweg zu weisen, ehe es zur Katastrophe kommt. Höre, was dir H.-H. Futterer sagt: Erkenne die Unterdrückung deines
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