Scherbengericht: Roman (German Edition)
ihr seit ihrer Zeit mit Hedwig Holzapfel vertraut waren. So konnte sie jetzt an der aus der Kühlkammer gezogenen Liege stehen, vor sich den nackten, gedrungenen, erstaunlich kleinen, kindlich schutzlosen Körper. Diese absolute Einsamkeit einer einst so gefeierten Künstlerin – Clementine zog tief die Luft ein –, das ist der wahre Hauch des Todes. Olga ist wieder ein Kind.
Zuerst war Clementine von dem immer noch runden, sich ihr verweigernden Gesicht gebannt, dann folgte ihr Blick dem dunkelroten Schnitt der Obduktion, der zwischen den erstaunlich vollen Brüsten ansetzte und neben einem großen rosigen Psoriasis-Fleck fast bis zum dunklen Schoß hinunter verlief. Sie betrachtete die wülstige Taille und erbleichte – an der linken Hand, die neben der flachgedrückten Hinterbacke ruhte, fehlte der Ringfinger. An dem hatte Olga stets einen breiten goldenen Siegelring ihrer kleinadeligen Familie getragen. Nur ein blassroter Stumpf war dort, wo er abgetrennt worden war. Entsetzt, ums Wort gebracht, deutete Clementine stumm auf die Amputation und starrte den Angestellten Erklärung heischend an. Der zuckte nur mit den Schultern: Das komme vor, wenn sich ein Goldring, meistens ein Ehering, nicht abstreifen lässt … Niemals könne man feststellen, wann und wo so etwas passiert sei: bereits auf dem Trottoir, dann im Unfallwagen, später bei der Einlieferung oder irgendwann, bei Tag oder Nacht, hier im Leichenschauhaus? Wenn die Dame nur wüsste, was da noch alles abgeschnitten oder -gerissen werde: Ohrringe, Zahnkronen. Er sehe immer nur die zugefügten Verletzungen, und neuerdings die Risse und Löcher von entfernten Piercings an den unglaublichsten Körperstellen. Und, indem er mit seinem todvertrauten perversen Blick ihren Ekel beobachtete, fuhr er fort: »Wissen Sie, aufgerissene Haut an den Augenbögen, an den Ohrmuscheln, an den Nasenflügeln, an den Lippen, an den Zungen, an den Brustwarzen, in den Nabelgruben, an den Geschlechtsteilen … Um erst gar nicht zu reden von den Tätowierungen. Da fehlen ganze Hautlappen, dafür gibt es einen exklusiven Schwarzmarkt …« Nun, schließlich sei das kein Museum hier, wo in jeder Ecke ein Wärter sitze und die Kunstschätze bewache. Aber Clementine hatte sich bereits angewidert dem Ausgang zugewandt. Dann war sie zu einem ihrer Lieblingscafés in der unmittelbaren Nähe des Opernhauses gefahren. Schon im Taxi hatte sie geprüft und entdeckt, dass sich auch ihr Ehering nicht mehr über den verdickten Knöchel abstreifen ließ. Auch Seife half nicht, mit der sie es auf der Toilette des Cafés versuchte.
Zur Einäscherung war Clementine in Begleitung von Gretl und Elias Königsberg erschienen. Als der bekannte und inzwischen stocksenile Musikkritiker in seinem Abschiedswort alle Glanzrollen der Olga Rebikoff aufzählte und ihren mühelos schwebenden Sopran rühmte – wie ein heiterer Frühlingszephir sei er gewesen –, und dann wieder mit seinem bekannten Vergleich (»unsere Emmy Loose«) auftrumpfte, da hatte Clementine sich schluchzend an Freund Elias klammern müssen …
Und welch ein glücklicher Zufall! – in diesem Augenblick ihrer traurigen Erinnerungen, tauchte Elias leibhaftig vor ihr auf. Er stand am Fenster und beugte sich über das Brett in ihr Zimmer herein. »Schönsten Morgen, Gnädige! Komm und lass dir von einem Anbeter einen Geburtstagskuss geben, Clementine, wie fühlst du dich?«, hörte sie seine Stimme, die sie so bewunderte: seine warme, tief vibrierende, diesmal feierlich bewegte, mit Cello-Resonanzen ausgestattete Stimme … Ach, Elias Casals.
Er trug eine weiße, kragenlose Leinenbluse – was früher wohl ein Russenhemd genannt wurde –, die sich nur vor dem Bäuchlein etwas spannte. Als er die Arme zur Begrüßung hochwarf, rutschten die weiten Ärmel zurück. Sein exotisches Herrenparfüm harmonierte mit dem schweren Lindenblütenaroma. Aber Clementine fiel auf, wie erschreckend dünn, blass und von blauen Adern durchzogen die Arme (fast hätte sie Ärmchen gemeint) des Psychiaters waren. Irgendwo in seinem Körper nistet bereits der Tod, schoss es ihr durch den Kopf. Wo hatte der sich bei ihr eingenistet – oder längst breitgemacht? »Ach, Elias, wenn wir das nur wüssten«, sagte Clementine, während sie ihren verdächtigten Leib langsam aus dem Korbsessel schälte.
Als alter Profi hakte er nicht gleich nach: »Wenn wir was wüssten?« Das wollte er sich für später aufheben.
9
GABRIEL
Gabriel Holberg saß ungeduldig in
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