Scherbengericht: Roman (German Edition)
habe er mehrmals kreuz und quer durchs Land zu Beerdigungen von Kollegen fahren müssen, alles Bekannte, mit denen er kürzlich erst – »die waren doch pumperlg’sund« – ein paar Flaschen Zweigelt geleert habe. Bald darauf waren seine Briefe für eine Weile ausgeblieben, und nach Wochen erst erhielt Clementine eine offensichtlich in ungeeigneter Körperhaltung gekritzelte Nachricht: Er liege mit schwerer Pneumonie im Krankenhaus von Sankt Pölten. »Ich weiß nicht, ob ich noch leben will«, stand da, und zum Schluss nur: »Dir, liebe Klenzi, meinen allerinnigsten Abschiedskuss.« Es war das erste Mal in ihrem über fünfjährigen Briefwechsel gewesen, dass er Clementines Kindernamen erwähnte. »Klenzi« – so hatten sie nur ihre Eltern und der Bruder genannt, nicht einmal dem Ehemann Alberto war diese Koseform geläufig gewesen. Aber dem lieben Schorsch hatte sie es einmal verraten und er war dabei geblieben, in der seligen Wiener Zeit.
Auf diese Nachricht hin beschloss Clementine, entgegen ihrer lebenslangen Weigerung, jemals wieder auch nur in die Nähe von Wien zu kommen und etwa Leute und Orte von einst wiederzusehen, in ihre alte Heimat zu fliegen. Sie kam um wenige Tage zu spät: Eine Lungenembolie hatte ihr den lieben Schorsch bereits entrissen. Ihr blieb ein Foto des Unfallchirurgen in fescher Bad-Ausseer Tracht, und die wohlbehütete Schuhschachtel voll seiner Briefe. Olga Rebikoff behauptete später, als sie die ganze Geschichte erfuhr, aus dieser Beziehung wäre nie etwas geworden, der Mann sei ganz offensichtlich ein sentimentaler Waschlappen und ein falscher Fuffziger gewesen, nicht unähnlich ihrem Bassbariton Salomon Gorky, einem Emigrantenkind wie sie, dem neben kleinen Rollen im Teatro Colón auch Gastspiele im Inland angeboten wurden. Gelegentlich sei sie da ebenfalls engagiert gewesen, und dann hätten sie zusammen gesungen und geschlafen. In der Provinz war eben alles möglich, da konnte eine Soubrette sogar als Norma auftreten. Einer der Höhepunkte von Salomons Sängerlaufbahn sei der Colline gewesen, der Philosoph in der Bohème, am Stadttheater von Asunción. Bis in seine letzten Tage hinein habe er die Geschichte erzählt, wie er und die anderen drei Bohemiens, schweißnass bei achtunddreißig Grad, im vorgetäuschten Pariser Winter auf der watteverschneiten Bühne überzeugend frieren und schlottern mussten – bis schließlich im schwitzenden Publikum da und dort prustendes Lachen hörbar wurde, das die anderen Paraguayer ansteckte, bis der ganze Saal in schallendes Gelächter ausbrach. Sogar unverständliche, aber vermutlich gemeine Zurufe auf Guaraní habe er gehört. Manche Opern könne man eben nicht überall aufführen. Fünfzehn Jahre lang habe Salomon Gorky ihr immer wieder die Heirat versprochen – sobald er sich von Frau und Kindern trennen könne. Doch seine finanzielle Grundlage und einzige Zukunft habe im Geschäft für Damenunterwäsche bestanden, das seiner Frau gehörte. Auf jede Gasttournee habe er seinen Musterkoffer mitgenommen, Käufe abgeschlossen, Lieferungen vereinbart und zuletzt die Muster unter dem lokalen Theaterpersonal zu Rabattpreisen verkauft. Ihr habe er manchmal ein paar übrig gebliebene Dessous geschenkt. Auf weinrot sei er gestanden.
»So«, hatte Olga ihre Erinnerung an Herrn Gorky abgeschlossen, indem sie theatralisch und mit erstaunlichem Schwung ihr rechtes Bein einsetzte: »Hab’ ich ihm Tritt in den Arsch gegeben!« Halb ernüchtert und halb verärgert hatte Clementine dieses schmuddelige Künstlerverhältnis – typisch für eine Soubrette! – mit ihrer eigenen, tragischen Liebesgeschichte verglichen. Aber bis heute, trotz ihrer abgelebten neunzig Jahre, beschäftigte sie immer noch die Frage, was bei einem Treffen mit Schorsch wohl alles hätte geschehen können. »Es ist eben die einmalige Leistung der Toten«, sagte sie sich, »dass sie uns nur eine Antwort hinterlassen – dieses ›Schöne sse pah‹.«
Jegliche Antwort verweigerte ihr auch das totenstarre Gesicht der Olga Rebikoff, als der Wärter im Leichenschauhaus das hellgrüne Tuch entfernte. Der Portier aus Olgas Gebäude hatte angerufen: Wen solle, wen könne er verständigen, eben sei ihre Freundin auf dem Trottoir zusammengebrochen, der Rettungsdienst habe nur noch ihren Tod feststellen können. Aber es gab keine Angehörigen, keinen einzigen Namen mehr, nicht einmal Salomon. In wütender Entschlossenheit hatte Clementine sofort alle amtlichen Schritte unternommen, die
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