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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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gestern Abend unter den Schwestern und Brüdern verteilt hatte: »In der Schale Fleisch und Blut« nannte es sich und war mit dem Untertitel »Mein blaues Büchlein« versehen – von Hans-Heinz Futterer, Monte Verdad, Quemquemtréu, 2000. In der langatmigen Einführung berichtete der Gründer des Schalerbunds von einem Reporter, der in Patagonien nach Nazisekten gesucht hatte, und in Quemquemtréu nur auf zwei senile NS -Greise, Fritz C. und Siegmund R., gestoßen war. Aber dann sei er der faszinierenden Persönlichkeit von H.-H. Futterer begegnet. Davon schreibt er in seiner Reportage, und von der »Bruderschaft« der Schaler. H.-H. Futterer sei keineswegs Sektierer, sondern ein freier, suchender und schenkender Geist, der die Schale zum Symbol der Gemeinschaft erhoben habe. Nichts anderes als »nomen atque omen« – mit diesem klassischen Zitat endete der Abschnitt über ihre Begegnung. Sei es nicht merkwürdig, dass weder ihm selbst, H.-H. Futterer, noch den Schwestern und Brüdern, die »wesensinnige« Beziehung zwischen dem Gründernamen und dem Bündnissymbol der Schale bisher aufgegangen war? »Wie so oft im irdischen Dasein«, sinniert Futterer, »liegt die Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Mission tief verborgen in ihm und harret der Bewusstwerdung. Wie oft wohl, wartet nomen , ein Eigenes , bis er sich endlich in seinem wesenseigenen Gefäß erfüllen kann?«
    »Warum denn nicht gleich in einer Kloschüssel? Bullshit!«, knurrte Gabriel. Seit gestern Abend rumorte in ihm tiefe Abneigung gegen den Meister – seit der abstoßenden Show, die er vor den Schwestern und Brüdern zur Silvesterfeier abgezogen hatte. Und jetzt das: H.-H. Futterer, wie er sich selbst stereotyp nannte (ein trockenes »Ha-ha« und, mit dem rollenden Zungen-R eines Älplers, das »Futterrerr«), feierte das abgedroschene lateinische Zitat als eine Offenbarung. Dabei handelte es sich doch, wie Gabriel leicht herauslesen konnte, um eine herablassende kleine Pointe, um eine Blödelei des Reporters: bitte, Futterer und Schale, oh wisset – »nomen atque omen«, Ha-ha!
    Der komplette Geschwisterbund, zweiundzwanzig Schwestern und Brüder, hatte sich gestern Abend zum alljährlichen Ritual um die ovale Tafel versammelt. Sie trugen die von Esther und Mausi geschneiderte helle Weihekleidung aus zartem Leinengewebe statt der alltäglichen indigoblauen Baumwollkluft. Die dreizehn Frauen waren in durchscheinende, weite, gespensterhaft wallende Ponchos gehüllt, die Männer trugen kragenlose, knielange Nachthemden, unter denen bombachas genannte Pluderhosen hervorschauten. Neben der Erwachsenengruppe saßen fünf Kinder an einem niedrigeren, aber ebenfalls ovalen Tischchen. In der Mitte der Tafel stand die riesige Holzschale, aus der die Versammelten mit ihren Holzlöffeln salzlos gekochtes Gemüse, Gerste und Maiskörner schöpften; die Eltern verteilten davon an die Kinder. Dazu wurden ungesüßte Obstsäfte kredenzt. Nach Mitternacht, als von der Ortschaft Quemquemtréu her nur noch vereinzelte Feuerwerkskracher zu hören gewesen waren, hatte der Meister mit einem tiefen, fast röhrenden Seufzer alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es folgte eine spannungsvolle Stille, dann kündigte er sein Wort zum neuen Jahr an.
    Sein Lebensweg habe, wie sie wüssten, schon siebzig Stationen durchschritten. Für dieses nun gemeinsam mit dem dritten Jahrtausend anbrechende Jahrhundert sehe er mit absoluter Gewissheit das Ende der Zivilisation voraus: Klimakatastrophen, wirtschaftlichen Kollaps, Verelendung, Massenmigration, Mauern und Stacheldraht zwischen Erster und Dritter Welt, heimtückische Pandemien, Amokläufe und Explosionen sozialer Gewalt, mörderischer Terrorismus – und am Ende, mit zwingender Konsequenz, den Atomkrieg. Nur Schutzgemeinschaften und Geschwisterbünde, wie eben die Schaler, würden in ihren entlegenen Glaubens- und Ökonischen den Untergang überleben. Sie hätten sich rechtzeitig mit dem transzendentalen Werkzeug für die Nach-Zeit und Post-Zivilisation ausgerüstet. Doch mündliche Übermittlung allein, und das in den Köpfen der Schwestern und Brüder angesammelte praktische Wissen, genügten nicht. Er wolle ihnen eine schriftliche Zusammenfassung seiner Lehre und seiner Empfehlungen für das Überleben hinterlassen. Daraufhin hatte sich ihr Meister unter den Tisch gebückt und war mit dem, was er zu seinen Füßen versteckt hatte, wieder aufgetaucht: einem Stapel schmaler, blau gebundener Büchlein, mit deren

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