Scherbengericht: Roman (German Edition)
Eigenen, reiße dich los von den Unterdrückern, fülle die Schale mit deinem Eigenen, komm zu uns und bleibe!«
Um den angepeilten Höhenflug der Gedanken nicht zu stören, aber als eine lehrhafte Geschichte, gab der Autor Weiteres über Dr. Gross in einer kleingedruckten Fußnote bekannt:
»Sein Vater war ein berüchtigter Oberstaatsanwalt und späterer Sektionschef im Wiener Justizministerium. Er hat damals vorgeschlagen, sämtliche Zigeuner der k. u. k. Monarchie in ein riesiges Arbeitslager im fernsten Waldviertel zu sperren. Diese drakonischen Empfehlungen und die autoritäre Natur des späteren Honorarprofessors haben einen seiner Hörer, den nachmalig so berühmten Franz Kafka in Prag, zu düsteren Erzählungen wie ›In der Strafkolonie‹ angeregt. Und Schlimmeres ist bald im Anzug gewesen. Den widerspenstigen Sohn Otto hat Prof. Gross erbarmungslos mit Entmündigung, Internierung in Heilanstalten, einschließlich Zwangsjacke und gerichtlicher Verfolgung, zu vernichten versucht. Und das Ende des verfolgten Psychiaters? Als ein auf den Straßen Berlins herumirrender homeless wurde er in einer eisigen Winternacht der zwanziger Jahre erfroren aufgefunden.«
Wie anders, hebt Futterer hervor, sein eigenes Lebenswerk: keine Strafkolonie, sondern eine Stätte des Genusses und der Freuden. Gabriel erinnerte sich bei den Worten »komm zu uns und bleibe!« an die erste Begegnung mit ihm. Der kleine, hagere Mann mit hypnotisch geweiteten Augen und grauem Prophetenbart stand vor seinem Schreibtisch in der »Schaler-Halle« und begrüßte ihn. An der hohen, weiß getünchten Wand in seinem Rücken hing ein großes Ölgemälde. Der Goldrahmen, von kirchlichem Prunk, widersprach dem Gegenstand: ein weiblicher Akt.
»Du musst wissen, Gabriel, wir sind hier die Arche Noah des Menschengeists. Unser Ararat ist dieser ›Berg der Wahrheit‹. Wir können dir helfen, dein Ureigenstes zu finden, in einer Schale aufzubewahren und zu beschützen.« Dann aber folgte der Hausherr dem Blick seines Besuchers und wandte sich ebenfalls dem Bild zu. Eine nackte, kleinbusige Rotblonde hockt auf einer schäumenden Meereswelle, von der sie in die obere Bildhälfte getragen wird. Das volle Haar wirbelt über ihre Schulter, und sie winkt mit der Linken – hinaus in den Ozean, zurück zum Strand? Am unteren Bildrand kommt eine Taube aus dem violettblauen Wogengewölbe auf den Betrachter zugeflogen. Und jetzt erinnerte sich Gabriel wieder, was Futterer ihm damals erzählt hatte.
»Das ist eine meisterhafte Kopie des Gemäldes ›Mädchen in der Meeresbrandung‹ vom großen steirischen Maler Karl Wilhelm Diefenbach. Sein Schüler, mein Großvater Hans, hat das anbetungswürdige Ölgemälde vor mehr als neunzig Jahren in Ascona kopiert. Nur anstatt der ursprünglichen Möwe hat er, wie unter einer höheren Eingebung, eine Taube gemalt. Beachte, wie sich die Schaumkrone fast zu einem Kreis schließt. Wir vermeinen zu sehen, dass sie sich mit dem Mädchen in der Richtung des Uhrzeigers dreht. Wir fühlen geradezu den Sog einer kinetischen Kraft in ihr. Wird man nicht förmlich hineingezogen? Winkt oder segnet uns, oder beides zugleich, das ewig Weibliche auf dem Grund einer Schale? Und die Taube, denkt man nicht an den Frieden? Da ist alles drin, mein Lieber.«
In der Folgezeit war Gabriel mehrmals unbemerkt in dem Zimmer gewesen und hatte das Bild betrachtet. Normalerweise hätte er es als bürgerlichen Kitsch der Jahrhundertwende abgetan. Der Vogel interessierte ihn nicht, aber die Frau. Wie jung Mama gestorben ist! Ihr schmales, sommersprossiges Gesicht will leben; es liegt noch so leicht auf dem Polster, umflossen von ihrem rotblonden Haar und von dem Haar Kathas, die sich über die Tote beugt. Sie hatte noch gewollt, dass man den ganzen Tag Debussy auflegte. Ich habe mich einfach umgedreht, habe die weinende Schwester verlassen und bin geflohen – in den Kreis der »Schaler«. Er konnte sich nicht erinnern, wo der Vater damals gestanden hatte, ja ob er überhaupt zugegen gewesen war.
»Paragleiten? Das betreiben viele Touristen hier. Dagegen ist nichts einzuwenden«, hatte H.-H. Futterer bei diesem ersten Gespräch auf Gabriels Frage erwidert, ob er sein Hobby fortführen dürfe, falls er sich den Schalern anschlösse. Übrigens, was empfinde man, wenn man da oben so über allem schwebe, wollte der Meister wissen. »Überraschung und Dankbarkeit, dass man nicht abstürzt«, hatte ihm Gabriel geantwortet. »Und auch etwas Angst und
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