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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Misstrauen – eigentlich denkt man ständig an die Naturkräfte, denen man ausgeliefert ist und derer man sich bedient. Und man hofft, dass alles gut geht, nichts reißt und keine Windhose aufzieht. Es gibt Augenblicke, die man fürs Leben mitnimmt, etwa wenn man minutenlang von einem Condor begleitet wird.« Andererseits hocke man in einem Gurtensitz, schwebe also mit dem Gesäß über dem Erdboden – nicht wie der Drachenflieger, dessen Gesicht, Brust, Bauch und Geschlecht der Erde zugewandt seien. Das Sitzen verleite zu einer Zuschauerhaltung. Das Paragleiten verführe eher zum Umherschauen als zum Überblicken. Und man sollte es gar nicht Fliegen, sondern Schweben nennen, ein schwebendes Sitzen, ja ein Thronen. »Empfindest du es gar so, als hingest du über einer Schale?«, wollte Futterer begierig wissen. Aber Gabriel verstand das damals nicht und hatte nur mit den Achseln gezuckt.
    Worauf H.-H. Futterer unvermittelt das Thema wechselte. »Wie steht es, hast du etwas Geld?« Und als er die Verblüffung in Gabriels Gesicht las, fuhr er gleich fort, das sei natürlich keine Aufnahmebedingung: Man gebe sich hier gegenseitig, was man so habe. Zum Beispiel Schwester Erda Siskauskas, die Witwe eines litauischen Baumeisters; sie habe den Schalern ihr gesamtes Vermögen übertragen. Gabriel wusste schon von seiner Großmutter, dass H.-H. Futterer einmal zu den Sommergästen auf dem Tilo-Hof gekommen war, um ihnen von seiner Lehre, von den Schalern und ihren finanziellen Bedürfnissen zu erzählen. Sie habe ihm, so die Oma, von seinem Vater, dem intelligenten, erfolgreichen und wohlhabenden Dr. Martin Holberg berichtet. Der kümmere sich um das Los der unbeliebten Rassen und Minderheiten, um Migranten, Indios und Zigeuner. Die Schaler seien doch auch so etwas wie eine Minderheit – oder? –, habe sie »den Futterer« gefragt. Der sei aber nur auf Geld aus gewesen. Sie klagte dann noch, dass der gutmütige Elias den skrupellosen Sektenführer zur Seite gezogen und lange mit ihm geredet habe – als wäre der nun sein Klient.
    Gabriel teilte heute das abschätzige Urteil der Oma. Rund fünfzigtausend Dollar hatte er ein paar Wochen nach dem ersten Zusammentreffen unter Hans Futterers kynetischer ewiger Weiblichkeit, und als er bereits bei den Schalern untergekommen war, dem Meister auf das Konto einer Stiftung Fleisch und Blut in Vaduz, Liechtenstein, überwiesen: Das war, nach dem Tod der Mutter, ein gutes Viertel seiner Erbschaft.
    Wald- und Wiesenduft stiegen aus der Tiefe herauf und verdrängten den beizenden Geruch des heißgelaufenen Motors. Gabriel stieg aus und näherte sich der Felskante. Auf seiner TAG- Heuer-Uhr war es zwanzig nach zwölf. Fern und dünn konnte er das an- und abklingende Gejaule eines Motors vernehmen. Das musste Enzo sein. Er beugte sich hinunter und überblickte den gewundenen Weg, den er heraufgefahren war. Noch verriet keine Staubfahne das Motorrad. Rechts, auf halber Höhe, lagen die Felder, Baumreihen und Gebäude des Tilo-Hofes, links, in der Ferne, der See. Die Wipfel eines Waldstreifens verdeckten den Bergrücken, den Futterer bei seiner Ankunft im Tal von Quemquemtréu sofort »Monte Verdad« getauft hatte und auf dem damals schon der »Berghof« von Enzo Ciriglianos Großvater, die Sufi-Miniaturmoschee, sowie die ummauerte Fantasieburg, die dem Meister gehörte, standen.
    Der See erschien ihm in dieser bewegten, formreichen Berglandschaft wie ein harter Fremdkörper. Die dunkelblaue Fläche und die steil abfallenden Felsufer ließen ihn kalt und leblos wirken. Nur das naheliegende Nordufer hatte eine flache Stelle. Dort endete die Straße, die von Quemquemtréu hinunterführte. Von einem Bootssteig konnte man zur Überfahrt in ein Naturschutzgebiet ablegen, das sich jenseits des Sees, entlang der argentinisch-chilenischen Grenze, nach Südwesten erstreckte: Urwälder, Täler, Berge und Gletscher lagen unter ständig aufbrechenden und sich wieder verdichtenden Wolkendecken. Fünftausend Millimeter Regen und Schnee gingen jährlich auf diesen Landstrich nieder. Gabriel hatte einige Male versucht, das Gebiet anzufliegen, aber in dieser Richtung konnten die Windverhältnisse sich schnell verschlechtern, konnten gefährlich für einen Gleitflug werden. Immerhin, von der erreichbaren Flughöhe aus hatte er schon mehrmals einen Fernblick in ein schmales Seitental werfen können, das sich westwärts zum nahen Pazifik hin öffnete. Eine Helle, die nach Sonnenuntergang hinter den

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