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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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verschneiten Gipfeln noch himmelwärts strahlte, ließ an den dahinter anbrandenden Pazifischen Ozean denken. Möwen kamen von dort, Vorboten des Meeres. An manchen Tagen schlossen sie sich ihm an und umstrichen schreiend seine Tragfläche.
    Enzo musste noch weit unten sein. Diese Verspätung würde die verfügbare Flugzeit verkürzen – schade angesichts dieser guten Luftverhältnisse. Er hatte der Oma versprechen müssen, mittags vor dem Lindenbaum herabzusinken und die feiernde Tafelrunde wie ein Engel oder Himmelsbote zu überraschen. Gut, es war ihr Sinn fürs Theatralische, und er wollte die Greisin nicht enttäuschen. Das hatte sie sich schließlich von ihm als Geburtstagsgeschenk gewünscht. Doch die Stimmung war dahin. Der Auftritt des Meisters gestern Abend, seine Selbstverstümmelung, das hatte ihn getroffen, auch die Haltung der Schwestern und Brüder, so unterwürfig. Also abheben, möglichst sofort davonschweben, über den ausgeflippten Hohepriester, über die Äbtissin Erda und sämtliche Schaler-Geschwister hinweg!
    Heute wird er Katha wiedersehen, erstmals seit zwei Jahren. Er fühlte sich schuldig, sie nach dem Tod der Mutter alleingelassen zu haben. Allein war sie dem Vater ausgeliefert gewesen und war erkrankt. Auch ihm musste er wieder begegnen, dem eitlen, Bücher schreibenden, sich allwissend und erfolgreich wähnenden Theoretiker und Aktivisten aller Arten von Antidiskriminierung, Prof. Dr. Martin Holberg, der dann Höchstleistungen auch von seinen beiden Kindern erwartet, ja gefordert hatte – so lange sie ihn dabei nur nicht übertrafen, versteht sich! Welch eine geistige Vergewaltigung schon in der Kindheit – ja, guter Gross, es ist, wie du warnst: Unser Vater hat meine Schwester und mich genau auf die von dir beschriebene Weise missbraucht, hat uns unser Eigenes verweigert! Aber wir wollen es ihm mit deinem Anarchismus heimzahlen!
    »Bei uns sind Sie am richtigen Ort«, hatte der Meister beim Vorstellungsgespräch verkündet. »Ich schätze Ihren berühmten Vater.« Aber Gabriel wollte sich sofort vom Alten distanzieren, den Oma Futterer als den großen Minderheitenbeschützer angepriesen hatte. »Sie müssen wissen, dieser von Ihnen so geschätzte Experte hat sich auf diskriminierende Weise meiner Beschneidung widersetzt, gegen die Tradition und den Wunsch meiner Mutter. Als Beschnittener hätte ich ein anderes, ein von ihm getrenntes, ein sinnorientiertes eigenes Leben führen können. Und ebenso autoritär hat er meine Schwester unterdrückt. Er hat ihr seine wissenschaftlichen Interessen und Paradigmen aufgedrängt, hat sie mit seiner Biosoziologie und seinem dubiosen Einsatz für diskriminierte Minderheiten zum geistigen Inzest gezwungen. Das hat meine Schwester gebrochen, und mein Vater hat sie für Monate in eine Nervenklinik einsperren lassen. Es ist so weit gekommen, dass selbst seine Mutter, die Ihnen bekannte Clementine, die ihn vergöttert und ihm alles nachsieht, ihn zu ein paar Besuchen bei dem prominenten Psychiater Dr. Königsberg überreden musste. Aber ich glaube nicht, dass ihn das verändern wird, eher zieht er auch den greisen Arzt noch auf seine Seite.«
    »Das denke ich nicht«, versetzte H.-H. Futterer, »ich habe diesen bewundernswerten Seelenarzt ja kennengelernt und wir sind uns in tiefgehenden Gesprächen begegnet . – Lieber Gabriel, ich will dir nur eines sagen: Befreie dich von deinem Vater, von allen … komm zu uns und bleibe!« H.-H. Futterer sprach es schlicht, nicht laut, mit unwiderstehlicher Wärme in der Stimme aus. Er war auf ihn zugetreten und hatte ihn kurz, fest und bündig umarmt. Durch die Hemdsärmel hatte Gabriel die harten Sehnen und Muskeln des Mannes fühlen können. Ja, da war er noch der Meister gewesen.
    Verdrossen kehrte Gabriel zum Samurai zurück und betrachtete sich im linken Außenspiegel. Wie unerträglich die Ähnlichkeit mit dem Vater! Auch jetzt, trotz Magerkeit und Sonnenbräune, dem langen Haar und spärlich sprießendem Bart. Er musste sich aber zugleich eingestehen, dass er in ein schönes Männergesicht blickte. Erschrocken entdeckte er im starken Sonnenlicht ein graues Haar an der Schläfe; kaum zu glauben, er versuchte es auszuzupfen. Mein Vater hat graues Haar. Ihm wurde bewusst: Ich hasse ihn vor allem, weil ich den Vater in mir hasse.
    Er setzte sich neben dem Fahrzeug auf den Felsboden und lehnte sich an ein Hinterrad. Der Reifen fühlte sich warm an. Was nun? Wichsen oder Weiterlesen? Lesen. Er blätterte

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