Scherbengericht: Roman (German Edition)
gelangweilt im Blauen Büchlein. Die autobiografische Einleitung kam zur Adoleszenz des Meisters in einer Waldorfschule in Buenos Aires, dem folgte die bald abgebrochene Mitgliedschaft in der »Christengemeinschaft«, schilderte seine Lehr- und Wanderjahre, die ihn in religiös und landwirtschaftlich orientierte Gemeinden in Südchile, Paraguay, Bolivien, Brasilien und Venezuela führten. Man erfuhr vom Tod des Vaters, Heinz, dem Sanftgewordenen, und schließlich vom Erwerb des Anwesens auf dem umgetauften Bergrücken in der Nähe von Quemquemtréu. Mit »Alles wahrhaft Große entspringt dem Ungewissen«, schloss der Autobiograf sentenziös diesen ersten Abschnitt.
Über dem zweiten stand: »Keine Lehren- Leere , sondern Schalen- Kost! « »Futtersprüche« werde er »aus teilen «, kündigte der Meister an. Gabriels Blick hüpfte suchend darin herum. Unter Nr. 9 musste er sich fragen lassen: »Wie kannst du Erfüllung finden, wenn du keine Schale hast?« Nr. 12 erläuterte heideggerisch: »Nach oben ist die Schale offen, sie ent -hält. Ent-halten ist ihr Sein.« Nr. 24: »Das Rund der Kuppel ist Egozentrik, Verschlossenheit, Patriarchat; das Rund der Schale Offenheit, Altruismus, die Hingabe des ewig Weiblichen.« Nr. 28: »Unter der Kuppel bist du gefangen, in der Schale aufgehoben.« Und Nr. 31 präzisierte: »Die Eichel am Penis ist eine Kuppel. Sie sucht die Vulva, die ihr zur Schale wird.« Vielleicht war Füllspruch Nr. 42 das Ergebnis des langen Gesprächs zwischen dem Meister und Dr. Königsberg: »Träume sind Geheimnisse, die unsere Seele vor der Vernunft verbergen will . Darum sollst du sie dir weder deuten noch deuten lassen , denn damit verrätst du deine Seele an die Vernunft, und sie wird es dir übel nehmen. Nur einem sollst du deine Träume weitergeben: dem, den du als den Meister deines Lebens anerkennst. Er wird die Träume in einem Tresor für dich aufbewahren, als Schalen-Hüter deiner Seele .« Schluss damit!
Wenige Seiten nur beanspruchten ein paar Verhaltensregeln für die Gemeinschaft. Wer etwas aus seinem Inneren preisgeben wolle, müsse sich an den »Futterknecht« wenden, als welchen H.-H. sich in einem Anfall von Bescheidenheit bezeichnete. Der werde es dann nach eigenem Ermessen an die Schwestern und Brüder weiterleiten und gemeinsam würde man ihn dann anhören und beratschlagen. Tagesablauf, Kleidung und intime Beziehungen sollen nicht fest geregelt werden, sondern sich ganz natürlich aus dem Zusammenleben der Geschwister und der Konsultation mit dem Futterknecht ergeben. Was man als gut befinde, das werde man befolgen, solange es sich gut anfühle. Vornehmlich drückte sich H.-H. s Wollen und Wirken in Anregungen aus: im Schaffen eines »Beziehungstreibhauses«, in der Belebung eines »sensorischen Mikrokosmos«, in dem man einander betrachtet, betastet, hört und riecht und schmeckt und dabei die Umwelt einbezieht – bei Garten-, Feld- und Hausarbeit, bei Tanz und Turnen und mimischer Darbietung von Schalenformen und Kreisbewegungen, beim Morgenwandern, wo man bald ins Schwitzen kommt und ungeniert furzen darf, beim Nacktbaden im eiskalten See, beim Kauern und Trinken um ein Lagerfeuer unterm Sternenzelt, in Baumumarmungen, beim Singen und Reigentanz, im Spiel mit den Kindern und bei den seltenen Anlässen des zeremoniellen Speisens in der Tafelrunde. Zwei Seiten allerdings füllte eine energische Auseinandersetzung mit der Ernährung und der Medizin. Erlaubt waren schließlich nur vegetarische Kost, ungesüßte Gemüse- und Fruchtsäfte (niemals industriell hergestellte) und nur anthroposophische oder sogenannte Naturheilmethoden.
Doch nach der vergangenen Nacht hatten diese Worte für Gabriel ihre Beschwörungskraft verloren, waren sie ihm Geschwätz geworden. Vor einem Jahr hatte er, »unser neuer Bruder Gabriel«, sein erstes feierliches Silvesterabendmahl erleben dürfen. Es war dem Meister gelungen, mit Gesang, dampfendem Gemüse und gegenseitigem Gestreichel ein sinnlich trunkenes Ambiente zu schaffen. Nachdem man die Kinder mit Gummibärchen zu Bett geschickt hatte, war es zu einer genussvollen, auf- und absinkenden Knutsch- und Umarmungstrance gekommen. Wie ganz anders das Abendmahl an diesem Silvester!
Schon bei der ersten Begegnung unter der originalgetreuen Diefenbacher-Kopie von Hans Futterer war Gabriel die große Warze im Gesicht des predigenden Enkels, im Winkel seines rechten Auges, zwischen Lidansatz und Nasenwurzel, aufgefallen. Nach zwei Jahren aber war
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