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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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diese Wucherung zur Größe eines Hühnereis ausgewachsen, welches das Auge bedeckte. Wenn man den Meister ansah, musste man es zwanghaft vermeiden, auf diesen blutdunklen und von einem feinen Aderngewebe überzogenen Beutel zu starren, von dessen praller Glätte letzthin auch noch einige Brauenhaare borstig abstanden. Unter den Geschwistern fiel nie ein Wort darüber. Gestern Abend jedoch war der hartnäckig beschwiegene Auswuchs des Meisters auf einmal dramatisch in den Mittelpunkt gerückt …
    Futterer saß zwischen seinen beiden Frauen: zur Rechten Hauptfrau Erika, von H.-H. »Erda« genannt, zur Linken Nebenfrau »Mausi«, deren wirklichen Vornamen niemand kannte. Erda Siskauskas, die Baumeisterswitwe aus Litauen, strahlte, wie üblich, heitere Hoheit aus, wirkte feierlich, sonnenköniglich: Eine majestätisch breite Gestalt, die mit ihrem hochgesteckten, in der Mitte gescheitelten grauen Haar über der marmorglatten Stirn ihren kurzwüchsigen Mann um Haupteslänge überragte. Mausi hingegen war zart, ganz das anschmiegsame, braunhaarige Mädchen, das Gabriel sofort nach seinem Beitritt gereizt hatte. Von Beginn an war er auf den Schatten in ihrem Schoß fixiert gewesen, der sich bei festlichen Anlässen unter dem lichtdurchlässigen Poncho abzeichnete. Hinzu kam die eigentümliche Art ihres Ganges, bei dem sie das Becken so hielt, als suchte sie damit etwas anzustoßen oder vor sich herzuschieben. Erst die Schwestern Esther und Hulda hatten ihm helfen können, sich dieser Obsession zu entledigen.
    Eben noch hatte die kleine Gemeinde ein paar Verse von Gusto Gräser gesungen, in der Vertonung des vielseitigen Heinz Futterer ( »… in ihren Hütten, mitten in der Welt wildwonnig wohnend, als Krumb und Krank zu junger Schöne schonend …« ). Danach hatte der Meister mit erhobenen Handflächen Schweigen geboten und zu einer längeren Rede angesetzt. Wie schmerzhaft sich diese ihm entrang, verriet sein wie unter Martern zuckender Körper. Er habe den Schwestern und Brüdern ja eben schon seine dunkle Prophezeiung verkündet und vorsorglich das Blaue Büchlein unter ihnen verteilt. Die Vorstellung des grauenhaft nahenden Untergangs und die unendliche Mühe, den rettenden Weg zu finden, dann Gott wieder und wieder darum bitten zu müssen, bis er ihm endlich eine Antwort habe abringen können, das alles habe seinem Kopf die ungeheuersten und schmerzvollsten Anstrengungen auferlegt. Sein voraussehendes, suchendes, bohrendes Vorderhirn, eingepfercht unter der Schädeldecke, habe das schließlich nicht mehr allein schaffen können. Den Druck nicht mehr ausstehend, habe sein Vorderhirn, durch die rechte Augenhöhle austretend, sich ein zusätzliches Denkorgan, eine Außenstelle, geschaffen. Sie alle mussten es ja längst an ihm bemerkt haben, aber keiner habe sich je darum Sorgen gemacht, ihn etwa danach gefragt. Bei dieser Bemerkung legte der Meister Daumen und Zeigefinger an die Geschwulst, lupfte sie ein wenig und blickte nun auch wieder einmal mit dem rechten Auge vorwurfsvoll in die Runde. Erda hatte den Arm um ihn geschlungen, schüttelte missbilligend ihr hochgetürmtes Haar und ließ ihre tiefe, runde Stimme vernehmen: »Sollste dich nicht grämen, Ha Ha, sollste nicht.« Mausi schmiegte sich an den bebenden Körper des Meisters und ließ ihre rechte Hand unter dem Tisch verschwinden.
    Aber Futterer hatte noch nicht zu Ende gesprochen. Jetzt, an der Schwelle des dritten Millenniums, habe er endlich alles, alles erfragt und beantwortet bekommen. Er danke Gott für seine Offenbarungen, wie qualvoll sie auch erkämpft werden mussten. Doch fortan, für den kurzen Rest seines irdischen Schalendaseins, brauche er keinen zusätzlichen Denkbeutel mehr; den wolle er, zum Beginn des neuen Jahrhunderts, nach erfüllter Mission, seinen Brüdern und Schwestern opfern. Während dieser Worte hatte er begonnen, sich ächzend über die Tischplatte zu recken. Erda versuchte, ihn zurückzuziehen; auch Mausi zerrte an etwas unter dem Tisch und fiepte dabei merkwürdig tierisch. Trotzdem gelang es dem Erregten, mit der einen Hand die leer gelöffelte Holzschale an sich zu reißen und, begleitet von einem Aufschrei der ganzen Runde, mit der anderen ein bereits aufgeklapptes Schweizer Taschenmesser zu zücken.
    Das war der Augenblick, in dem Gabriel, wie von heftigem Übelsein befallen, aufgesprungen und hinausgelaufen war. Bis in den Flur hinaus verfolgte ihn noch die Einladung: »Meine lieben Geschwister, esset mein Fleisch und

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