Scherbengericht: Roman (German Edition)
trinket mein Blut aus dieser Schale!« Der Meister war verrückt geworden. In seine Zelle geflüchtet, wachte er nach unruhigem Schlaf schon im Morgengrauen auf. Ob Futterer sich tödlich verletzt hatte? Die strikten Einwände und Verbote des Sektengründers gegenüber der Ärzteschaft fielen ihm ein. Aber in dem großen Gebäude herrschte Stille. Also nur fort! Im Hof wartete der geländegängige Samurai; die Tasche mit der Flugausrüstung hatte er schon am Vorabend darin verstaut. Das Tor in der Burgmauer stand wie immer offen, die Zugbrücke wurde schon lange nicht mehr hochgezogen. Er holperte mit dem Wagen über den wasserlosen Graben und verließ den »Berg der Wahrheit« in Richtung Quemquemtréu.
Das Café neben der Tankstelle war durchgehend in Betrieb. Ein paar abgeschlaffte Girlanden hingen noch herum, und über dem Boden verstreut lag buntes Konfetti, zertretene Papptrompeten, Plastikbecher und geplatzte Luftballons. Er hatte frühstücken können und war dann zum Felsvorsprung aufgebrochen, der Abflugstelle der Paragleiter am Westhang des Piltriquitrón.
Endlich nahe – das vertraute Röhren eines Kawasaki-Motors. Gabriel sprang auf, steckte das Blaue Büchlein ins Handschuhfach zurück und hielt wieder Ausschau. Staubwolken verrieten ihm, wo Enzo sich in Serpentinen heraufarbeitete. Schließlich sprang das rote Motorrad mit einem letzten Aufheulen und mit Enzos tätowiertem Glatzkopf voran, zum Felsplateau herauf. Der Motor wurde abgeschaltet.
»Große Scheiße, Gabo-man!«, schrie Enzo so laut, als ob die Maschine noch liefe, die Beine im engen schwarzen Leder nach beiden Seiten ausgestreckt und mit nackten, muskulösen Armen winkend. »Scheiße, Gabo-man! Schon drei Hantavirusfälle im Krankenhaus heute Morgen, Mutter und zwei Kinder. Wir von der Freiwilligen Feuerwehr im Großeinsatz. Dutzende von Hütten und Schuppen aufreißen, lüften, desinfizieren!«
Gabriel schaute ihn verständnislos an: »Was?«
Möglich, dass Gabo noch nie davon gehört habe, räumte Enzo ein. Es seien ja die ersten Fälle in sechs Jahren. »Man, du müsstest doch endlich ein Handy haben, ist jetzt Vorschrift für Paragleiter. Konnte dich von unten her nicht verständigen.«
»Du weißt doch, Mobiltelefone mag man bei den Schalern nicht. Nur Futterer hat eines.«
»Diese Idioten … Unsere drei Infizierten werden womöglich sterben. Zuerst hohes Fieber, dann Atembeschwerden, innere Blutungen, Kotzerei, Scheiße, aus. Gibt noch kein Mittel gegen diesen Virus, man.«
Enzo erklärte Gabriel, wie die tödliche Infizierung mit dem Hantavirus über Mäusedreck und -urin erfolge. Die Gefahr lauere in dunklen Verschlägen, Lagern, Ställen, Dachböden, wo sich die Träger des Virus herumtreiben. Wenn man in dem lange geschlossenen Raum Staub aufwirbele, etwa beim Herumwerken oder Fegen, atme man sofort den Virus ein und – aus, Amen! Andererseits genüge schon ein kurzer Einfall von Tageslicht, um den Erreger zu vernichten, und die Gefahr sei vorbei.
»Ich muss sofort wieder hinunter, Gabo-man. Kam ja nur wegen dir. Es kann noch andere erwischt haben. Stell dir vor, was mein Großvater vorhin gesagt hat: Die Hiesigen leben im Dreck und dann wundern sie sich, wenn eine Epidemie ausbricht. Gabo-man, da kannst du nichts machen, Hopfen und Malz verloren, er ist und bleibt der alte Faschist. Willst du trotzdem fliegen? Der Hangaufwind scheint ja okay zu sein.«
Gabriel erzählte Enzo vom Geburtstagswunsch der Großmutter. Er wollte eigentlich schon längst in der Luft sein, um wenigstens das Schweben noch ein bisschen zu genießen.
Es gelte, den Virus-Vorfall so unauffällig wie nur möglich zu handhaben, mahnte Enzo. Als es vor sechs Jahren zehn Fälle gegeben habe, sechs davon tödlich, sei die Fremdenverkehrssaison in Quemquemtréu im Eimer gewesen. Damals habe er den ganzen Sommer über nur drei Gleitschirm-Schüler gehabt. »Wenn du da unten ankommst, man, halt bitte das Maul. Rotraud und die Gäste bei Lagler haben Internet und sie könnten es verbreiten. Wegen dreier Fällen verlieren wir unsere Touristen für die ganze Saison. Abwarten! Deine Futterer-Bande wird es sowieso schon wissen. Die sehen darin sicher ein dunkles Vorzeichen. Hantavirus, man – passt perfekt zu ihrem Weltuntergang! Das spricht sich sofort herum. Aber vielleicht haben wir Glück und es kommt zu keinen weiteren Fällen.«
»Der Schaler-Prophet ist mir jetzt scheißegal; er hat mich enttäuscht, im wahrsten Sinn des Wortes. Erkläre ich dir
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